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Baumraum
Symbolik und Wahrnehmung von Bäumen im Alltag

erschienen in
Zuschnitt 83 Holz im Alltag, Dezember 2021

In einem dreißig Jahre alten Märchen von Werner Moser, dem Autor wunderbarer Kinderbücher, steht geschrieben: „Könnte er reden, er wüsste sicher viele Geschichten zu erzählen.“ Die Rede ist von einem ansehnlichen Baumriesen. Man sieht ihn gezeichnet auf der gegenüberliegenden Seite, knorrig gewachsen, sein Habitus der einer bergenden Schutzmantelmadonna. Und man meint, er könne sprechen. „Aber was sage ich da – er kann ja reden! Man muss nur die Sprache der Bäume verstehen können. Und das wiederum ist ganz einfach: Man braucht nur gut zuzuhören.“ Die jungen Leserinnen und Leser – nein: Zuhörerinnen und Zuhörer – begreifen sofort, ganz unmittelbar: dass Bäume mächtig Eindruck machen. Ihre magnetische Wirkung – dass man bei ihnen verweilen will noch im fortdrängendsten Alltag, den Kinder ja noch gar nicht kennen – kann nicht auf den Begriff gebracht werden. Das besondere Zwiegespräch findet dann unter der breiten Krone statt, wo man den Wind rascheln hört, wo er die Haut streift, die feinen Härchen im Gesicht rührt, sympathetisch in der Nase juckt, wo man im Schutz vor Regentropfen verweilt, wo man die Blüte riecht oder Früchte sammelt, sich schmückt mit Astwerk und Blattwerk, wo man sein Empfinden öffnet, wo das Jahr kreist. Kinder sind längst im Baumraum, wo andere ans Bauholz denken oder übers Mikroklima dozieren. Sie begnügen sich mit einem Lebewesen. Aber das ist viel! Doch nicht nur sie finden, wenn sie eingeschlafen sind, in Träumen wie im Märchen ganz unten zwischen den mächtigen Wurzeln ein Tor; und Spechtlöcher werden Fenster und ganz im Inneren eines unermesslichen Stamms ist eine gemütliche Wohnung eingerichtet. Sogar ein Haus sitzt im laubigen Geäst verborgen, ganz oben. Das ist der Märchenalltag des Baums. So besehen ist er ein Symbol und jeder stattliche Baum eine Behauptung, die Mitte der Welt zu markieren. Das Gemeingut der Märchen legt sich um den knöchernen Alltag wie eine Waffe gegen die dominante Rationalität.

Verwurzelt, stämmig, lebendig

Der Titel des zu solchen Gedanken anregenden Bilder-Lesebuchs lautet: „Das Haus auf dem fliegenden Felsen“. Fliegt auch die Fantasie davon, so steht ein Baum doch für Verwurzelung, für das feste Stehen im Grund: das Stämmigsein. Wir alle meinen zu wissen – aus dem frühen Sachkundeunterricht –, dass ein Laubbaum seine in die Luft gereckte Krone im Erdreich als Wurzelwerk spiegelt. Zumindest ist das eine der eingängigeren Informationen der Schulzeit, die Freude erregt beim Wissen. Der Baumraum ist ein Raum der Kühle und des Schattens, der Düfte und der Geräusche, der Insekten und Vögel, er ist aber ebenso gut ein unsichtbares Geflecht, ein verborgener Erdraum, der in ältesten Mythologien seinen Platz hat. Warum nagen Wesen an Yggdrasils Wurzeln, haben im Schoß der Weltesche die Nornen Urd, Verdandi und Skuld ihren Sitz – die Zeit? Warum halten hier die Asen über unser Schicksal Gericht? Mythen sind Weltdeutungen aus anderer Zeit, können indes zur Weissagung werden für unsere Zukunft. Und dass Bäume nicht einfach nur Geschichten anregen, sondern dauerhafter Teil einer bedeutsamen Kulturgeschichte der Natur sind, das hat wohl mit besagtem Habitus zu tun: Je größer, je länger, die Lebenszeit des Menschen weit überragend, ist es Dauer, die ihr Wuchs verkörpert – wenn wir das zulassen – und so eindrückliche Bedeutung erlangt: jene eines Ortes von Schutz, eines anthropomorphisierten Gegenübers, dem wir uns irgendwie anvertrauen wollen. Diese numinose Unmittelbarkeit passt gut in eine Zeit, die das konkrete Erleben wiederbeleben möchte und die handfeste Stofflichkeit der Dinge mit Sinn auszustatten sucht. Heutige Försterinnen und Förster beispielsweise wissen das längst. Auf gewisse Weise sind Bäume für sie lebendig, wenn sie Bestseller über das Kommunikationsgeflecht von Wurzeln und Pilzen schreiben – als hätten es die Philosophen der Postmoderne nicht schon gewusst. Vielleicht haben sie die Wirklichkeit zu sehr gescheut?

Was also ist der Baumraum? Er ist vor allem eins: lebendig. Was ist sein Alltag? Nicht, dass es einen Baum kümmerte, aber er hat doch die Kraft, unsere ganze Vernunft zu versammeln, die träumende und die pragmatische. „Unter“, auch „zwischen“, sogar „in“, das ist die phänomenologische Ausrichtung des Baumraums – dabei immer doppelt geschenkt, real und imaginär, könnte man sagen. Otto Friedrich Bollnow, der über Raum und Stimmung schreibt, spricht allerdings noch in alter Manier vom „hodologischen Raum“, dem Höhlencharakter unserer Wohnung, um so das Achsensystem seiner Raumlehre doch wieder allein auf den Menschen zu beziehen. Es ist erstaunlich, dass auch Gaston Bachelard in seiner Poetik der Räume die geborgenen Orte nur im Gebauten sucht – höchsten die Muschel lässt er gelten. Und Pflanzen? Das wusste doch die Theorie schon lange, dass es das Vorbild der Bäume war, nach dem der menschlich-fügende Verstand erste Bauten errichtete: Urhütten. Die Rationalität der Aufklärung wollte nun aber auch wissen, mit Berufung natürlich auf Vitruv, dass der Mensch erst zur Sprache finden musste, sich als Gemeinschaft organisieren musste, um die Natur ernsthaft zum Vorbild sich nehmen zu können. Emanuele Coccia – im Sinn einer „aufgeklärten“, neuen Biologie – geht aktuell freilich viel weiter: „Nur im Angesicht der Welt und der Natur kann der Mensch wirklich denken“. Die gewachsene Welt liegt der Klügelei voraus.

Ein Knotenpunkt zur Welt

Und doch, man stelle sich vor: Das Zentrum einer Stadt, ein Baum! Und das vor der „Krise“! Ganz bekömmlich-alltäglich steht er da und ist Ort des Ratschlusses – oder man trinkt hier schlicht Kaffee. Und das seit Hunderten Jahren. Oder sind es Jahrtausende? Auch diesen Baum kennen alle, die Dorflinde, mancherorts umbaut von hölzernen Gebilden. Doch war das eben nicht nur im Norden so, wie Rudi Palla in seinem schönen Baumbuch mit einem Stich des Hauptplatzes von Kos aus der „Voyage pittoresque de la Grèce“ von 1782 belegt. Unterm Baum, umwachsen, steht der Pavillon, aus dem die Quelle sprudelt. Drum herum lagert man auf Stufen, Säulen stützen seine schwer ausladenden Äste. Ist es eine Kastanie, um die sich die Kulturen von Orient und Okzident in Frieden versammeln? So also kann die gewachsene Form unser Handeln ins Gute lenken, anziehen und ausstrahlen ins städtische Zusammenleben. Denken wir auch noch ans Handwerk: Besondere Tischlerinnen und Tischler wie James Krenov lesen offenbar aus dem Spiel der Maserung – Ast-Intarsien – nicht nur den Wuchs des Baums heraus, sondern leiten die Gestalt ihrer Möbel davon ab. Aber auch durch Patina und Geschichte überträgt sich die Lebendigkeit des Baums noch im getischlerten oder gezimmerten Stück Holz auf das Ding. Steen Eiler Rasmussens unorthodoxes Lehrbuch vom Architektur-Erleben zeigt das Bild eines abgewetzten Nussholzstuhls von rund 300 Jahren. Seine heutige Form scheint die Gestalt jenes Baums zu erinnern, von dem er abstammt. Nicht allein durch die kundige Hand des Tischlers, auch durch die Zufriedenheit des Gebrauchs scheint das Gewächs weiterzuleben, wo es nicht einfach nur zum Material geworden ist. Das ist beileibe keine Esoterik, sondern beruht auf einfühlendem Empfinden, dem Zusammenleben mit den Dingen: den sorgfältig gemachten und genutzten.

Was hat das alles mit dem Alltag des großen Einzelbaums zu tun, zu dem ja jeder Baum einmal heranwachsen möchte? Nun, es ist eben ein besonderer Alltag, den er fördert. Ein Baum kann Knotenpunkt vielfältiger Zugänge zur Welt sein. Noch im spröden Treiben der Großstadt ist er ein Ratgeber der Sinnlichkeit, ein Wachrufer geteilter Räume, der uns einander näherbringt, nicht nur auf der schattigen Parkbank. Am Beginn steht doch so wenig: die Entscheidung, einen zu pflanzen, den Platz zu reservieren, ein Pflanzloch zu graben – diesen jungen Baum, der wenig mehr ist als ein Sträuchlein, zu gießen und zu achten. Aber damit ist er schon Teil unseres Alltags. Er wächst für kommende Generationen.


verfasst von

Albert Kirchengast

Architekturtheoretiker, lehrt an diversen Hochschulen und ist Autor von Fachbeiträgen und Büchern. 2022 erschienen die Anthologien „Landscape Analogue. About Material Culture and Idealism “ sowie „Brutalismus in Österreich 1960 – 1980. Eine Architekturtopografie der Spätmoderne in neun Perspektiven“.

Erschienen in

Zuschnitt 83
Holz im Alltag

In diesem Zuschnitt zeigen wir, in welcher Vielfalt uns Holz täglich begegnet!

8,00 €

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Zuschnitt 83 - Holz im Alltag