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Der unsichtbare Begleiter
Über die langsame Sichtbarwerdung von Holz in der Gesellschaft

erschienen in
Zuschnitt 83 Holz im Alltag, Dezember 2021

„Glücklich, der den Tisch als Holz sehen kann, den Tisch als Holz fühlen kann – der das Holz des Tisches sieht, ohne dabei den Tisch zu sehen, und sei es nur für einen Moment im Leben. Da- nach wird er ‚wissen‘, was ein Tisch ist, aber er wird sein ganzes Leben lang nicht vergessen, daß er Holz ist. Und er wird dann den Tisch, den Tisch als Tisch noch mehr lieben.“

Fernando Pessoa

Die Bestürzung ist jedes Mal aufs Neue groß: „Solch nette Nachbarn! Immer haben sie so freundlich gegrüßt! Wir haben nichts gewusst.“ Oder auch: „Wir haben es ihnen nicht angesehen.“ Solche Sätze liest man regelmäßig nach spektakulären Kriminafällen: Wir haben es ihnen nicht angesehen. Das bedeutet auch: Wir haben sie nicht gesehen, nicht wahrgenommen, uns nicht bewusst mit ihnen auseinandergesetzt. Nicht nur das Zusammenleben von Menschen, sondern auch die Welt der Dinge ist von diesen Aspekten der Nicht-Wahrnehmung geprägt. Die Psychologie spricht vom Prinzip der selektiven Wahrnehmung und meint damit, dass die Wahrnehmung durch begrenzte, unterschiedliche oder einseitige Aufmerksamkeit eingeschränkt ist. Die Kommunikationswissenschaft wiederum spricht von einer selektiven Wahrnehmung, wenn die von einem Absender versandten Nachrichten vom Empfänger zu weniger als 100 Prozent wahrgenommen werden. Es bedeutet, dass nur ein kleiner Teil der Reize ankommt: Der Rest bleibt unsichtbar, unter der Wahrnehmungsschwelle.

Die neurologische Tatsache der selektiven Wahrnehmung sichert nicht weniger als unser Überleben. Eingebaute Wahrnehmungsfilter sorgen bei uns Menschen dafür, dass die tatsächlich wahrgenommenen Informationen stets geringer sind als die angebotenen. Was wir jeweils aufnehmen, hängt von sozialen Faktoren ab: unseren Bedürfnissen, unseren Erfahrungen, unseren Interessen.

Wie die zwischenmenschlichen Aspekte, so nehmen wir auch Himmel, Stein, Erde oder Holz selektiv wahr: Wir denken nicht permanent reflektierend an diese uns ständig umgebenden Dinge, sondern wir beschäftigen uns – wenn es denn sein muss – selektiv damit. Wir schreiben Dingen Eigenschaften zu. Diese selektiv zu- und wegschaltbaren Eigenschaften der dinglichen Welt machen einen wesentlichen Bestandteil unserer menschlichen Kultur aus. Bereits das Mittelalter kannte – und bekämpfte über die Deutungsinstitute der Klöster – den Begriff der Dingbedeutsamkeit oder Dingbeseelung. Es geht dabei um die Annahme, dass Gegenstände – Dinge – über ihre materielle Beschaffenheit und Funktion hinaus symbolische Inhalte vermitteln können. Das romantische Zeitalter verwendete solche Denkmuster in seinen Märchentheorien. Im Zentrum der neuerlichen Dingbeseelung des frühen 19. Jahrhunderts aber stand Goethe. Goethes Wahrnehmung der beseelten Natur kam also nicht aus dem Nichts, sondern sattelte auf eine jahrhundertealte, aber zeitweilig vergessene Denktradition auf. Goethe spürte in jeder Quelle eine Nymphe auf und jeder Baum war die Immanation eines Waldgeistes. Diese Tradition setzt sich bis in die heutige Zeit fort, zum Beispiel bei den sich auf Goethe berufenden Anthroposophen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte eine Gegenbewegung ein. Der Dichter Heinrich Heine etwa beklagte in seinem spätromantischen Gedicht „Waldeinsamkeit“ aus dem Jahr 1851 die Entseelung der dinglichen Welt:

„Der Himmel ist öde, ein blauer Kirchhof, entgöttert und stumm.“

Erst im 20. Jahrhundert tauchte die Theorie über Dingbeseelung wieder auf, etwa in der Ergologie, der Wissenschaft von den materiellen und technischen Erzeugnissen menschlicher Kultur. Der Museologe Leopold Schmidt sprach im Jahr 1952 von einer „Stoff- und Gestaltheiligkeit“, die etwa für mythologisch aufgeladene Gegenstände der bäuerlichen Kultur festzustellen sei. Wenn also ein bestimmter kultischer Gegenstand früher aus Blei gefertigt wurde, dann sei dem Werkstoff Blei in solch einem Fall eben Stoffheiligkeit zu attestieren. Damit könne die besondere magische Bedeutung ausgedrückt werden, die Blei zugesprochen wurde.

Zwischen den Dingen

Wir pendeln also, wenn wir die Welt der Dinge beschreiben wollen – zum Beispiel den Stellenwert von Holz in unserem Alltag – ständig zwischen diesen beiden Extremen hin und her. Nichtwahrnehmung auf der einen Seite, kulturelle Überhöhung bis hin zu einer animistischen Stoffheiligkeit, die Holz sogar in manchen Fachzeitschriften zugeschrieben wird, auf der anderen Seite. Wenn wir also einen Mittelweg suchen wollten: Wo können wir Holz in unserem Alltag erleben? Und wie ist der kulturelle, der kulturhistorische Kontext von Holz in unserer Gesellschaft? Beginnen wir unsere Betrachtung mit Bereichen, die sich normalerweise unterhalb der Wahrnehmungsschwelle befinden. Die Sprache ist hier verräterisch. Fuhr man in früheren Zeiten im Zug und hatte nicht viel Geld, dann reiste man in der sogenannten Holzklasse. Holz war eben die normalste Sache der Welt. Holz war überall und allgegenwärtig und daher oft unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Holzbauten prägten jahrhundertelang das Bauen in Österreich, durchaus auch außerhalb der heute notorisch für ihre Holzbaukultur bekannten Regionen. Holzbau war so allgegenwärtig, dass das Material einfach nicht gesehen wurde.

Wie gewöhnlich der Holzbau war, zeigt uns ein mittelalterliches Sprachdokument, die Fahrnis. Die Fahrnis bezeichnete im Gegensatz zu unbeweglichen Sachen – Immobilien – bewegliche Gegenstände, also Mobilien, an denen ein Sachenrecht besteht. Beweglich zu sein, ist also die wesentliche Eigenschaft einer Sache, die als Fahrnis bezeichnet wurde. Sogar Fische in einem Teich oder das Wild im Wald wurden in bestimmten Rechtsordnungen erst dann zur beweglichen Sache, wenn sie gefangen oder erlegt waren. Unter Fahrnis verzeichnen alte Texte „Golt, silber, edel gesteine, vie, ros und allez, daz man triben und tragen mag“, also Gold, Silber, Edelsteine, Vieh, Rösser und alles, das man treiben und tragen kann. Im römischen Recht galten auch Sklaven als Fahrnis. Zur Fahrnis gehörten aber auch – und nur das ist hier von Interesse – Holzhäuser. Holzgebäude waren nach dem mittelalterlichen Recht nämlich nicht mit dem Boden verbunden. Man sagte, sie waren nicht „niet- und nagelfest“. Für Holzhäuser galt daher der Grundsatz:

„Was die Fackel zehrt, ist Fahrnis.“

Das Fahrnisrecht ließ jenen, die Holzhäuser besaßen, große Freiheiten. Wir wissen aus der Bauforschung, dass mittelalterliche und frühneuzeitliche Holzhäuser im Alpenraum meist mehr als einmal ihren Standort gewechselt haben. An diese Flexibilität des Holzbaus sollten wir uns durchaus wieder erinnern.

Vielleicht ist diese besondere Rechtsstellung des Holzbaus dafür verantwortlich, dass Holz kulturell lange unterhalb der Wahrnehmungsschwellen existierte. Wenn wir historische Fotografien bedeutender historischer Gebäude betrachten, werden wir überraschend oft in den kulturhistorisch wichtigen Festsälen einfache Brettelböden aus Weichholz sehen können. Diese Dielenböden sind die älteste Form des Holzbodens. Die dafür verwendeten massiven, breiten und lange Dielen waren durchschnittlich 4 cm stark und wurden meist ohne Nut und Feder auf Polsterhölzer gelegt. Sie waren meist aus Kiefer, Lärche, Fichte oder Tanne. Diese Dielen wurden per Hand aus der Mitte des Stamms gesägt, weil sich diese sogenannten Herzbretter weniger verziehen. Dielen mit Breiten von bis zu einem Meter waren möglich und wurden meist direkt auf die Deckenbalken genagelt. Adolf Loos schrieb in seinem wesentlichen Text „Architektur“ aus dem Jahr 1909 über den Zimmermann, dass dieser einfach das Dach mache:

„Was für ein dach? Ein schönes oder ein häßliches? Er weiß es nicht. Das dach.“

Genauso schlicht und unsichtbar kann man sich vermutlich auch die früher allgegenwärtigen Dielenböden vorstellen. Was für ein Boden? Ein schöner oder ein hässlicher? Einfach ein Boden. Ein Boden aus Holz eben.

Holz bewegt

Hin und wieder aber können wir auch die Sichtbarwerdung dieses uns allgegenwärtig und daher unsichtbar gewordenen Holzes erleben. Im Rahmen des österreichischen Denkmaljahres 1974 erschien im Otto Müller Verlag das dreibändige Werk „Alte Holzbaukunst in Österreich“ von Otto Swoboda. Der Autor wurde mit diesem wesentlichen Werk zum „Achleitner des Holzbaus in Österreich“. Wie Friedrich Achleitner reiste auch er jahrzehntelang kreuz und quer durch die Lande, immer auf der Suche nach der unsichtbaren Fahrnis Holzbau. Der Holzbau wurde von Kunsthistorikern vernachlässigt und blieb deshalb unbekannt, obwohl die Zimmermannskunst seit dem späten Mittelalter das Bauen in den Städten, Märkten sowie auf dem Land wesentlich bestimmte. Dass es etwa in Österreich relevante Fachwerkbauten gab, wissen wir nur durch die Arbeit Swobodas. Zimmerleute zählten bis in die Zeit der Hochrenaissance hinein nicht nur zu den zahlreichsten, sondern auch zu den angesehensten Handwerkern Österreichs. Swobodas Publikationen zeigen Holzbauten aller Art, auch solche, die man bei uns kaum vermutet hätte. Leider ist heute vieles davon verschwunden. In allen Bundesländern sind davon nur noch Reste zu sehen.

Heute wird – besonders im Westen – jede Menge Altholz für „authentische“ Holzchalets aufgeschnitten und verarbeitet. Der Bedarf ist gigantisch. Und in vielen architektonisch spektakulär gestalteten Neubauvillen werden die unscheinbaren Brettlböden früherer Zeiten zu „Schlossdielen“ nobilitiert. Es hat sich etwas verändert. Der Kreislauf des Holzes von der Unsichtbarkeit hin zur Stoffheiligkeit ist in Bewegung.


verfasst von

Klaus-Jürgen Bauer

geboren 1963 in Wien. Architekturstudium in Wien in der Meisterklasse Holzbauer. Er ist Architekt mit eigenem Büro in Eisenstadt, Kurator sowie Mitglied des Fachbeirats der big Art und des P.E.N. Er hält Vorträge im In- und Ausland und pflegt eine umfassende Publikationstätigkeit.

Erschienen in

Zuschnitt 83
Holz im Alltag

In diesem Zuschnitt zeigen wir, in welcher Vielfalt uns Holz täglich begegnet!

8,00 €

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Zuschnitt 83 - Holz im Alltag