Zum Hauptinhalt springen

Holz, mon amour
Die Liebe zu Holz in zehn Zitaten

erschienen in
Zuschnitt 83 Holz im Alltag, Dezember 2021

Leichtigkeit, Schnelligkeit, Genauigkeit, Anschaulichkeit, Vielschichtigkeit, Beständigkeit: 1984 schlug Italo Calvino diese sechs Eigenschaften als jene vor, die ihm für das erfolgreiche Bestreiten des nächsten Jahrtausends bedeutsam schienen. Mehrere davon treffen auf ein Stück Holz zu. Wer hat nicht schon einmal die Leichtigkeit erfahren, mit der Holz einfach genutzt werden oder durch wenige Handgriffe bearbeitet werden kann, um ein Alltagsproblem zu lösen? Ein Ast dient als Spazierstock oder als Spieß für das Grillen am Lagerfeuer, das Stück eines Baumstamms erlaubt als Sitzgelegenheit eine kurze Rast und ein einfaches Holzstück stoppt, zu einem Keil reduziert, eine Tür.

Holz ist ein intelligentes Material, jenseits technologischer Entwicklungen, von Natur aus. Es war und ist ein Protagonist der Menschheitsgeschichte, unseres Alltags. Zum Beweis hier eine kurze, nicht erschöpfende Auflistung hölzerner Dinge in meiner Zürcher Wohnung: Haustür, Türen zu allen Zimmern, Fenster, Fensterbänke, Parkettboden, Trennwand, diverse Möbelstücke, Tische, Stühle, Hocker, Schaukelstuhl, Schreibtisch, Bett, Garderobe, Kleiderbügel, Bilderrahmen, eine Statue, afrikanische Masken, eine senegalesische Skulptur, Schneiderpuppe, mehrere Schachteln, Zollstock, Griffe für Hämmer und anderes Werkzeug, Schlüsselanhänger, Klavier, Geige, Gitarre, Bleistifte, Teller, Schneidebretter, Salatbesteck, Salatschüsseln und Obstschalen, ein Messerblock, Untersetzer, Korken, Zahnstocher, Streichhölzer, Pfeifen, ein Nussknacker aus dem Erzgebirge, eine Pinocchio-Figur, Miniaturhäuser, verschiedenste Brettspiele, Zahnbürsten, ein Kamm, ein orientalischer Regenschirm, Schmuck, Holzschuhe, Bücher, ...

Holz ist daher ein Substantiv im Singular und im Plural zugleich. Dieses Wort beschreibt ein Material mit unterschiedlichen Stimmungen, das auf den Wechsel der Jahreszeiten reagiert, dessen Metamorphosen mit der Zeit gehen, dem menschlichen Bedürfnis folgend. Holz ist demokratisch, es kann von jedem bearbeitet und bewohnt werden, seit Anbeginn der Zeit. Von der biblischen Sintflut bis zur göttlichen Erlösung, vom Blasrohr bis zur Stadt.

Genesis
Genesis 6:14– 16

Mach dir eine Arche aus Zypressenholz! Statte sie mit Kammern aus und dichte sie innen und außen mit Pech ab! So sollst du die Arche bauen: dreihundert Ellen lang, fünfzig Ellen breit und dreißig Ellen hoch. Mach der Arche ein Dach und hebe es genau um eine Elle nach oben an! Den Eingang der Arche bring an der Seite an! Richte ein unteres, ein zweites und ein drittes Stockwerk ein!

Pinocchio
Carlo Collodi, 1883

Es war einmal – ein Stück Holz. Es war kein besonderes Holz, sondern nur ein einfaches langes Holzscheit, wie man es winters in den Kamin wirft, damit es den Menschen Wärme gibt. [...] „Du kommst mir gerade recht. Ich will ein Tischbein aus dir machen.“ Gesagt, getan. Er holte die Axt und schärfte sie, damit er die Rinde recht sauber abschälen könne; sie kam ihm sehr fest vor. Meister Kirsche hob die Axt und wollte gerade zuhauen, da blieb ihm der Arm vor Schreck in der Luft stehen. Denn er hörte ein fiepsfeines Stimmchen flehentlich bitten: „Hau mich nicht!“ [...]

„Woher ist bloß das Stimmchen gekommen? Hier ist ja keine Menschenseele. Aber es hat doch ‚Au‘ gerufen. Sollte etwa dieses Stück Holz weinen und jammern wie ein Kind? Das kann ich nicht glauben. Anton, sieh es dir einmal ruhig an: es ist ein Stück Holz wie alle anderen. Man kann es ins Feuer werfen und eine Bohnensuppe darauf kochen. Oder ... sollte jemand darin stecken?“

Charlotte Birnbaum (Übersetzung), München 2009, S. 11 – 13

Zehn Bücher über Architektur
Vitruv, 19 v. Chr.

Das Bauholz muß gefällt werden von Anfang des Herbstes bis zu der Zeit unmittelbar, ehe der Favonius (Westwind) zu wehen beginnt. Denn im Frühling werden alle Bäume (gleichsam) schwanger und geben alle ihnen eigenthümlichen guten Eigenschaften an das Laub und die jährlich wiederkehrenden Früchte ab. [...] Die Bäume aber haben von einander abweichende und unähnliche Eigenschaften, wie die Eiche, die Ulme, die Pappel, die Zypresse, die Tanne und die übrigen, welche besonders für Bauten geeignet sind.

Franz Reber (Übersetzung), Stuttgart 1865, S. 62 und 64

Robinson Crusoe
Daniel Defoe, 1719

Ich begann sodann mir diejenigen Gegenstände anzufertigen, die mir die notwendigsten schienen, nämlich vor Allem einen Tisch und einen Stuhl, da ich ohne diese nicht einmal die geringe Behaglichkeit, die mir auf der Welt geboten war, zu genießen vermocht haben würde. Denn ohne Tisch hätte ich weder schreiben, noch essen, noch andere dergleichen Geschäfte mit einiger Bequemlichkeit vornehmen können.

Hierbei kann ich nicht umhin zu bemerken, daß, da die Vernunft die Wurzel und der Ursprung der Mathematik ist, Jedermann durch vernünftige Berechnung und Ausmessung der Dinge binnen kurzer Zeit ein Meister in allen mechanischen Künsten zu werden vermag. Ich hatte in meinem früheren Leben niemals Handwerkszeug zwischen den Fingern gehabt, und trotzdem erkannte ich jetzt bald, daß es mir durch Arbeit, Ausdauer und Eifer möglich sein würde, Alles, was ich brauchte, wenn ich nur das nöthige Geräthe gehabt hätte, selbst anzufertigen. Indeß machte ich eine Menge Dinge auch ohne Handwerkszeug. Einige ledig- lich mit Hobel und Hackbeil, und zwar waren das Gegenstände, die wohl nie früher auf solche Art verfertigt waren. Zum Beispiel, wenn ich ein Brett nöthig hatte, blieb mir Nichts übrig, als einen Baum zu fällen und ihn mit der Axt von beiden Seiten so lange zu behauen, bis er dünn wie ein Brett war, worauf ich ihn dann mit dem Hobel glättete. [...]

Zunächst machte ich mir aus den kurzen Latten, die ich auf meinem Floße aus dem Schiffe geholt hatte, Tisch und Stuhl.

Karl Altmüller (Übersetzung), Leipzig 1869, S. 72 – 73

Lob des Schattens
Tanizaki Jun’ichirō, 1933

Der Besitzer des Kairaku-en hat eine Abneigung dagegen, Badewannen und Waschgelegenheiten mit Fliesen auszulegen, und er hält die Badezimmer für die Gäste in reiner Holzausstattung; aber es braucht nicht gesagt werden, daß von der Wirtschaftlichkeit und vom praktischen Gebrauch her Fliesen unendlich überlegen sind. Braucht man allerdings für die Decke, die Pfeiler, die Täfelung ein schönes japanisches Holz und legt man nur einen Teil mit jenen grellen Fliesen aus, so harmoniert das sehr schlecht miteinander. Solange der Raum neu ist, mag es noch angehen. Aber wenn nach Jahren die geschmackvolle Maserung auf Brettern und Pfeilern hervortritt und nur die Fliesen weiß glitzern und gleißen, so sieht es wirklich aus, als habe man Holz zu Bambus gefügt [d. h. Unvereinbares miteinander verbunden; Anm. d. Übers.].

Eduard Klopfenstein (Übersetzung), Zürich 1990, S. 12– 13

Mythen des Alltags
Roland Barthes, 1957

Die Verbürgerlichung des Spielzeugs läßt sich nicht nur an seinen – völlig funktionalen – Formen erkennen, sondern auch an seinem Material. Die üblichen Spielsachen sind aus einer kargen Materie, Produkte einer Chemie, nicht einer Natur. Viele sind heute aus komplizierten Pasten geformt; Kunststoff sieht ebenso plump wie hygienisch aus, mit ihm erlischt das Angenehme, Sanfte, Menschliche der Berührung. Ein bestürzendes Zeichen ist das fortschreitende Verschwinden von Holz, ein Stoff, der wegen seiner Festigkeit und seiner Zartheit, der natürlichen Wärme bei der Berührung ideal ist. Holz behält jede Form, die man ihm gibt, vermeidet Verletzungen durch scharfe Kanten, die chemische Kälte des Metalls; wenn das Kind mit ihm hantiert und gegen es stößt, zittert und quietscht es nicht, es gibt einen satten und zugleich klaren Ton von sich.

Horst Brühmann (Übersetzung), Berlin 2010, S. 75 – 76

Träume von Räumen
Georges Perec, 1974

Das Studierzimmer ist ein Möbelstück, das auf dem Fliesenboden einer Kathedrale steht. Es befindet sich auf einem erhöhten Platz, zu dem man über drei Stufen gelangt, und enthält hauptsächlich sechs Regale voller Bücher und verschiedener Gegen- stände (vor allem Dosen und Vasen) und eine Arbeitsfläche, auf deren ebenem Teil sich zwei Bücher, ein Tintenfaß und eine Feder befinden, auf dem schrägen Teil das Buch, in dem der Heilige gerade liest. All seine Elemente sind starr, das heißt, sie bilden das eigentliche Möbelstück, aber auf dem erhöhten Platz steht auch ein Stuhl, auf dem der Heilige sitzt, und daneben eine Truhe. [...] Der ganze Raum ist um dieses Möbelstück herum gestaltet (und das Möbelstück wiederum ist um das Buch herum gestaltet): die eisige Architektur der Kirche (die Kaltheit des Fliesenbodens, die Feindseligkeit der Pfeiler) heben sich auf: Ihre Perspektiven und ihre Senkrechten begrenzen nun nicht mehr allein den Ort eines unaussprechlichen Glaubens; sie sind nur noch da, um dem Möbelstück seine Rangordnung zu geben, ihm zu ermöglichen, eine Verbindung herzustellen, sich in den Rahmen einzufügen: Im Zentrum des Unbewohnbaren beschreibt das Möbelstück einen domestizierten Raum, den die Katzen, die Bücher und die Menschen in aller Gelassenheit bewohnen.

Eugen Helmlé (Übersetzung), Bremen 1990, S. 108 – 110

Wissenschaftliche Selbstbiografie
Aldo Rossi, 1981

Ich möchte jedoch eine Aussage Mazzariols in Erinnerung rufen, der von einem „prämonumentalen“ Venedig spricht, von einem Venedig, das noch nicht das Weiss der Steine Sansovinos und Palladios ist. Das Venedig Carpaccios, so wie ich es mit seinen Lichtern der Innenräume sehe, aus Holz, wie in gewissen holländischen Interieurs, die an Schiffe erinnern und die Nähe des Meeres spüren lassen. Dieses Venedig aus Holz war auch stärker mit dem Podelta und mit den Brücken verbunden, die die Kanäle überqueren und von denen der Ponte dell’Accademica eine bessere Vorstellung vermittelt als die Rialtobrücke, auch wenn der aus dem 19. Jahrhundert stammt.

Heinrich Helfenstein (Übersetzung), Zürich 2014, S. 128 – 129

Der Tempel aus Holz
Italo Calvino, 1990

Was uns der Tempel aus Holz lehren kann, ist dies: Der einzige Weg, in die Dimension der fortdauernden, einen und unendlichen Zeit einzutreten, führt durch ihr Gegenteil, die Fortdauer des pflanzlichen Lebens, die fragmentierte und vielfache Zeit dessen, was sich abwechselt, ausgesät wird, aufkeimt und dann verdorrt oder verfault. [...] Der Tempel aus Holz erreicht seine höchste Vollendung, je karger und schmuckloser der Raum ist, in dem er uns empfängt, denn es genügt das Material, aus dem er gebaut ist, und die Leichtigkeit, mit der man ihn zerlegen und wieder genauso zusammenbauen kann, um zu beweisen, daß alle Teile des Universums eins nach dem anderen zerfallen können und trotzdem was bleibt.

in: Gesammelter Sand, Burkhart Kroeber (Übersetzung), München 1995, S. 184 f.

Lexikon der verlorenen Dinge
Francesco Guccini, 2012

Il cioccaballe – das Blasrohr. Die Herstellung erforderte ein gewisses Maß an Geschick. Man nahm einen geraden Holunderzweig (nur dort natürlich, wo die Holunderbäume wachsen), zehn bis zwölf Zentimeter lang und etwa zwei Zentimeter dick. Mit einem speziellen spitzen Werkzeug wurde das gesamte Mark, das bei Holunderbeeren zart ist und sich leicht durchstechen lässt, entfernt. Das Ergebnis war eine Art Blasrohr mit einem Kern, der im Durchmesser etwas größer war als eine Zigarette. Die Stängel wurden dann so lange gekaut, bis eine kleine Kugel entstand, die in das Rohr eingeführt und an einem Ende mit einem Stock, einem Stößel, meist aus abgelagertem Kastanienholz, der etwas kürzer als das Blasrohr ist, eingedrückt wurde.

Mailand 2012, S. 28 [Übersetzung Alberto Alessi]


verfasst von

Alberto Alessi

Architekt, freier Kurator und Kritiker, lebt in Zürich

Erschienen in

Zuschnitt 83
Holz im Alltag

In diesem Zuschnitt zeigen wir, in welcher Vielfalt uns Holz täglich begegnet!

8,00 €

Zum Produkt   Download

Zuschnitt 83 - Holz im Alltag