Die 2019 in London verstorbene Susan Hiller gehörte zu den einflussreichsten Künstlerinnen ihrer Generation, ihre künstlerische Tätigkeit in den frühen 1970er Jahren wurde von der Bildsprache des Minimalismus und der Konzeptkunst beeinflusst. Hiller nannte darüber hinaus die Kunstströmungen Fluxus, Surrealismus und ihr Studium der Anthropologie als wichtige Einflüsse auf ihr Werk. Seit Hiller in den frühen 1980er Jahren erstmals innovative Audio- und visuelle Technologien einsetzte, fanden ihre bahnbrechenden Installationen, Multi-Screen-Videos und Audioarbeiten internationale Anerkennung.
„Konzeptkünstler sind eher Mystiker als Rationalisten“, schrieb der amerikanische Künstler Sol LeWitt 1969 in seinen „Sentences on Conceptual Art“, die zusammen mit der Schrift „Paragraphs on Conceptual Art“ von 1967 die Konzeptkunst begründeten. Aber nur wenige Konzeptkünstler:innen setzten sich mit so viel Intelligenz und historischer Perspektive mit dem Mystizismus auseinander wie Susan Hiller.
„Was mich interessiert, ist auf eine seltsame Weise unsichtbar. Ich meine nicht, dass es buchstäblich unsichtbar ist. Ich meine nur, dass niemand darauf achtet und es deshalb nicht sieht.“
Nahezu alle Werke der Künstlerin gehen von spezifischen kulturellen Artefakten unserer Gesellschaft aus. Die hier abgebildete Arbeit „First Aid: Homage to Joseph Beuys“ (1969 – 2016) zeigt 13 Vintage-Erste-Hilfe-Kästen aus Holz und anderen Materialien, die mit Filz ausgekleidet sind und Glasflaschen mit Weihwasser von heiligen Stätten, Brunnen und Bächen auf der ganzen Welt enthalten. Susan Hiller selbst hat sie über einen Zeitraum von über vierzig Jahren gesammelt und zu einer Hommage an den deutschen Künstler Joseph Beuys installativ zusammengeführt. Ähnlich wie Beuys zitiert auch Hiller in ihren Arbeiten immer wieder die heilende Kraft der Natur, der Spiritualität und wie in diesem Fall auch die hartnäckigen Glaubensvorstelllungen in der Volkskultur. Hillers Arbeiten stehen für eine revisionistische Geschichte der Avantgarde, indem sie deren Schlüsselstrategien in spirituelle Begriffe fasst. Die kanonischen Künstler:innen, auf die sie sich beruft (u. a. Marcel Duchamp, Gertrude Stein, Joseph Beuys), verwandeln das Niedrige in das Heilige und kanalisieren die Kräfte des Unbewussten. Diese Stränge des paranormalen Denkens, so esoterisch sie auch sein mögen, verbinden die Avantgarde mit einer breiteren Kultur. In „Psi Girls“ (1999), einer Videoinstallation mit fünf Kanälen, werden Ausschnitte aus Hollywood-Filmen gezeigt, die telekinetische Fähigkeiten beinhalten. Von „Firestarter“ bis „The Craft“ bedienen diese Filme eine populäre Faszination an Frauen und Mädchen, die sich Kräfte jenseits des rationalen Verständnisses zunutze machen. Die Parallele zu religiösen Visionen sowie anderen Formen des Glaubens und paranormalen Sichtungen ist in vielerlei Hinsicht interessant. Dieser Art, Dinge jenseits der „Fakten“ zu betrachten oder sich vorzustellen, wurde immer mit großer Skepsis begegnet. Zugleich, und vielleicht gerade deshalb, kann man beobachten, dass die Fähigkeit, mehr zu sehen als das, was tatsächlich existiert, eine ambivalente treibende Kraft in der Welt ist: politisch, sozial und technologisch.
Susan Hiller
geboren 1940 in Tallahassee
gestorben 2019 in London
Einzelausstellungen (Auswahl)
2020
London Jukebox, Bloomberg SPACE, London
2019
Ghost/TV, Matt’s Gallery, London
Die Gedanken sind frei, Museu de Arte Contemporânea de Serralves, Porto
2018
Social Facts, Officine Grandi Riparazioni, Turin
Lost and Found & The Last Silent Movie, Sami Centre for Contemporary Art, Karasjok/NO
2017
Paraconceptual, Lisson Gallery, New York
2016
Aspects of the Self 1972 – 1985, MOT International, Brüssel
The Last Silent Movie, FRAC, Franche-Comté, Besancon
Gruppenausstellungen (Auswahl)
2022
Portals, Lisson Gallery, London
2021
Delights of an Undirected Mind, Lisson Gallery, London
2020
The World Is Gone, I Must Carry You, Bonniers Kunsthall, Stockholm
Folklore, Centre Pompidou-Metz, Metz
2019
Seaside: Photographed, Turner Contemporary, Margate/UK
The World Exists to Be Put on a Postcard: Artists’ Postcards from 1960 to Now, British Museum, London
2018
Kotodama, Para-Site, Hongkong
Building Romance, Toyota Municipal Museum of Art, Toyota/JP
2017
London Literature Festival, Southbank Centre, London
Everything at Once, The Store, 180 The Strand, London