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Was ist Healing Architecture?

erschienen in
Zuschnitt 84 Gesundheitsbauten in Holz, März 2022

Healing Architecture ist ein junger, im Bereich des Gesundheitswesens aber wohl­bekannter Begriff. Eine allgemeingültige Definition fehlt jedoch – zu viele Aspekte stecken in dem Konzept, das auch als Architecture for Health, Heilsame Architektur oder Healing Environment bezeichnet wird. Dahinter steht immer dieselbe Frage: ­Welchen Einfluss haben Räume auf Gesundheit und Genesung? Kurz, Healing Archi­tecture beschreibt einen Ansatz in der Planung von Gesundheitsbauten, der Architektur als eine jener Variablen anerkennt, die sich positiv auf das physische und psychische Wohlbefinden auswirken und die Gesundheit bzw. Genesung fördern.

Bereits in den 1980er Jahren bewies Roger Ulrich, dass Gesundheit und Genesung nicht nur von medizinischen und therapeutischen Maßnahmen abhängen. In seiner Studie „View through a window may influence recovery from surgery“ („Der Ausblick durch ein Fenster kann die Genesung nach einem operativen Eingriff beeinflussen“, Übersetzung der Autorin) zeigte sich Folgendes: Patient:innen, die nach einer Gallenoperation einen Ausblick auf weitläufige Grünflächen hatten, benötigten im Vergleich zu solchen, deren Blick auf die Mauer eines unmittelbar gegenüberliegenden Gebäudes gerichtet war, weniger Schmerzmittel, hatten weniger Komplikationen und wurden schneller wieder gesund. Auch das mentale Befinden hatte, abhängig vom Raumerleben und den Qualitäten des Raumes, einen wesentlichen Einfluss. Ulrichs ganzheitliche Auffassung, die nicht nur die rein körperliche Verfassung als Indikator für den Gesundheitszustand heranzog, wird oft als wegbereitend für das Konzept der Healing Archi­tecture genannt.

Seither ist ein Umdenken zu erkennen. Die Anzahl der Studien und Forschungstätig­keiten nahm besonders in der jüngsten Vergangenheit deutlich zu, sodass der Einfluss des gebauten Raumes auf das Wohlbefinden und den Gesundheits- bzw. Genesungs­zustand wissenschaftlich und evidenzbasiert immer besser untermauert ist.

Elemente von Healing Architecture

Ein viel zitiertes Element von Healing Archi­tecture ist der bereits bei Ulrich erwähnte Ausblick. Doch es werden weitaus mehr Faktoren der Umgebung, der Architektur und Raumgestaltung wirksam. Bedeutend sind vor allem jene, auf die kranke Menschen besonders sensibel reagieren. Denn im Kranksein verändern sich mitunter die Sinne oder gehen verloren, Räume werden anders, Reize teilweise verstärkt wahrgenommen.

Orientierung Bei Krankheit oder in be­sonders belastenden Situationen ist das Aufmerksamkeitsniveau oft einschränkt. Wird die räumliche Orientierung durch ­gestalterische Elemente unterstützt, kann dies eine große Erleichterung im Alltag von Patient:innen z. B. mit Demenz sein. Viele Türen, Schilder und Abzweigungen erzeugen Verwirrung – klare Orientierungspunkte und eine direkte visuelle ­Beziehung hingegen helfen dabei, sich in einem Gebäude zurechtzufinden und mit demenz- oder krankheitsbedingten Fehleinschätzungen von Höhen und Strecken umzugehen.

Geruch und Geräusch Bei Reizempfindlichkeit und erhöhtem Erholungsbedarf lösen einige Frequenzbereiche wie das ­Piepen von Geräten oder laute Gespräche mitunter Unruhe aus und stehen der Gesundung im Weg. Auch die Sensibilität gegenüber Gerüchen nimmt zu und be­einträchtigt das Empfinden, wenn beispielweise Desinfektions- und Putzmittel die Raumluft dominieren. Der Duft von Holz sorgt hingegen für ein angenehmes Raumklima und wird grundsätzlich als ­positiv und beruhigend empfunden.

Privatheit Neben Möglichkeiten zur ­sozialen Interaktion und Begegnung sind auch Rückzugsorte, in denen man sich nicht verloren oder vergessen vorkommt, für den Genesungsprozess entscheidend. Auch in Situationen des sorgenvollen ­Wartens auf eine Diagnose oder eine ­Besprechung spielt das Maß an Privatheit eine Rolle: Sitze ich aufgereiht mit anderen in einem langen Gang, wo mich alle sehen und vielleicht sogar Gesprächsfetzen durch Türen zu hören sind, oder gibt es ­Nischen, die Privatheit erlauben?

Licht und Farbe Die Art der Belichtung und der Einsatz von Farben, aber auch warmen Materialien wie beispielsweise Oberflächen aus Holz sind wesentliche ­Aspekte von Healing Architecture. Natürliches, warmes Licht erzeugt ein ­Gefühl von Schutz und Geborgenheit. Künstliches, flackerndes Licht kann hin­gegen den Tag-Nacht-Rhythmus stören und ist, ebenso wie grelle Farbe, ein Stressfaktor. Pastelltöne und „warme“ Oberflächen ­wirken beruhigend und werden bevorzugt in Bauten in der Geriatrie und Pflege von Senior:innen und Demenzkranken eingesetzt.

Aussicht, Weitsicht und Perspektive Patient:innen verbringen mitunter viel Zeit in Gesundheitsbauten, oft in ihren Zimmern. Auch der Aufenthalt in Behandlungs- und Therapieräumen ist in vielen Fällen von längerer Dauer z. B. bei einer Dialyse oder einer Chemotherapie. Mit welcher Aussicht man hier sitzend oder liegend, in jedem Fall wartend, Zeit verbringt, kann den Genesungsprozess beeinflussen, wie schon die Studie von Roger Ulrich zeigte. Der Blick ins Grün war mitentscheidend – die Weitsicht wirkt positiv auf die Zuversicht und Perspektive, das Grün ist insofern ein Bonus, als der Blick in die Natur, am besten auf eine Waldlandschaft, das Immunsystem nachweislich aktiviert.

Menschliches Maß Große Gebäude lassen den einzelnen Menschen beim Betreten, zumindest gefühlt, verschwinden. Schafft es die Architektur bzw. Raumgestaltung, dass man sich als Individuum im Raum wiederfindet, fühlt man sich weniger verloren und eher willkommen, was Vertrauen weckt. Ein gesundes Vertrauen wiederum stärkt das Wohlbefinden.

Literatur

  • Heilsame Architektur. Raumqualitäten erleben, verstehen und entwerfen: Katharina Brichetti, Franz Mechsner (Hg.), Bielefeld 2019
  • Architektur für Gesundheit: Christine Nickl-Weller, Hans Nickl (Hg.), Salenstein 2020
  • Architektur als zweiter Körper. Eine Entwurfslehre für den evidenz­basierten Gesundheitsbau: Gemma Koppen, Tanja C. Vollmer, Berlin 2022

verfasst von

Christina Simmel

leitende Redakteurin der Zeitschrift Zuschnitt

Erschienen in

Zuschnitt 84
Gesundheitsbauten in Holz

Was kann ein Gebäude aus Holz zu Genesung, Gesundheit und Wohlbefinden beitragen? Antworten darauf finden Sie in diesem Zuschnitt.

8,00 €

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Zuschnitt 84 - Gesundheitsbauten in Holz