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Geh mir aus der Sonne!
Sommerliches Leben in Denkhütten

erschienen in
Zuschnitt 85 Pause, Auszeit, Holz, März 2022

Künstler:innen und Denker:in­nen beeindrucken ihre sozialen Umfelder in der Regel durch großartige geistige und krea­tive Werke. Überraschenderweise aber findet die Produktion solcher überragender Leistungen oft in winzigen Gebäuden statt: Vor allem der Aufenthalt in bescheidenen Hütten erfreut sich großer Beliebtheit. Er steht in einer langen Traditionskette.

Diogenes von Sinope aber […] blieb ungestört in seiner Ruhe im Kraneion, ohne sich im Geringsten um Alexander zu kümmern; daher begab der sich zu Diogenes hin. Diogenes lag eben an der Sonne. Als aber so viele Leute auf ihn zukamen, reckte er sich ein wenig in die Höhe und sah Alexander starr an. Dieser grüßte ihn freundlich und fragte, womit er ihm dienen könne. „Geh mir nur“, versetzte er, „ein wenig aus der Sonne!“
Plutarch

Jedes Kind kennt die Geschichte von Diogenes in der Tonne, der den mächtigsten Mann seiner Zeit bittet, ihm doch aus der Sonne zu gehen. Der Philosoph hatte aus Überzeugung keinen festen Wohnsitz, sondern schlief in einem Pithos, einem übermannshohen, dickwandigen, antiken Vorratsgefäß aus Ton. In solchen Gefäßen wurden damals (manchmal) Menschen bestattet.

Zeit ist Geld: Das ist, seit es Geld gibt, die Losung der Menschheit. Das Verhalten von Diogenes definierte jedoch einen alternativen Zugang zur Welt und seine ungewöhnliche, kleine Behausung wurde ein radikales Zeichen dafür. Sein Verhalten knüpfte an die damals schon untergegangene Lebensweise der arkadischen ­Hirten an, die in Muße lebten. Erst durch die Erfindung der Landwirtschaft wurde Arbeit zur moralischen Pflicht. „Geh mir aus der Sonne“ ist in diesem Zusammenhang auch ein unanständiger und etwas altmodischer Rückgriff auf eine untergegangene Kultur der Muße, die man vor seiner kleinen Hütte selbstgenügsam ausleben möchte.

Glückliche Tage, Hütten aus Holz

Die Römer fanden schließlich für die erfolgreiche emotionale ­Bewältigung des leistungsbetonten Lebens die noch perfektere Strategie: otium. Dieser lateinische Begriff für Muße entwickelte sich aus dem Gegenteil für das Wort Arbeit: aus neg-otium wurde otium. Otium ist das Gegenteil von Negotium, der tyrannisch ­erzwungenen Arbeit, die Saturn den Bauern als Nachfolger der Hirtenkultur auferlegte. Die oberen Klassen der antiken römischen Gesellschaft, welche die Führungsaufgaben im Staat innehatten, wurden von Historiker:innen manchmal sogar als Otium-Schicht bezeichnet. Als Ausgleich für ihre große Verantwortung entwickelten sie Strategien, die immer kostbarer werdende Freizeit angenehm und sinnvoll zu gestalten. Monumente wie das Pantheon oder das Kolosseum wurden so zum Ausdruck römischer Otium-Kultur, die durchaus kein Vorrecht herrschender Kasten war. Brot und Spiele bildeten die Grundlage für das öffentliche Leben in Rom: ein Lebensstil, dem alle Orte und auch alle Stände der antiken Welt nacheiferten. Otium, das ist das ruhige und jeglicher Verpflichtung ledige Leben: die glücklichen Tage.

Das Fass des Diogenes – und damit die Urform aller Denkhütten – war ursprünglich kein Holzhaus. Viele Denkhütten unserer Tage aber sind es. Ihr wahres Wesen jedoch liegt nicht im Material begründet, sondern im Maßstab. Denkhütten haben eine ­sakrale Herkunft. Sie sind verwandt mit den Geisterhäuschen auf Bali, mit den Schatzhäusern in Delphi oder den ländlichen Kapellen unserer Zeit. Sie stammen auch vom berühmten Gehäuse des ­Kirchenvaters Hieronymus ab, ein hölzernes Kabäuschen, ­worin, wie in Le Corbusiers Cabanon, alles der Muße Dienliche seinen festen Platz hatte und so zum Urbild aller Studierstuben wurde. Ihre Überschrift lautet: Rückzug.

Eine weitere Vorläuferin der Denkhütte ist die Sukka, die jüdische Laubhütte aus Ästen, Laub und Stroh, in der man zur Zeit der Ernte feierte, aß und manchmal auch schlief. Und nicht zuletzt stammen Denkhütten von den Hütten der römischen Saturnalien ab, in die man sich während dieser exzessiven Festtage im losen Gewand zurückzog.

Orte des Tätigseins

Denkhütten sind also zeitweilige Zufluchtsorte. Sie haben dadurch auch das Potenzial, Orte des tätigen Abwartens zu werden: Übersommern ist ein aus der Mode gekommener Begriff dafür. „Geh mir aus der Sonne“ verweist jedoch darauf, dass solche Denkorte oft auch mit dem Sommer verbunden waren und sind. Der Dichter Ernst Jünger etwa bewohnte einen Sommer lang zur Beruhigung seiner Nerven seine beiden Kurzzeitrefugien Schilfhütte und Auwaldhütte. In diesen lebte er in einer Art Kriegs­zwischenzeit, zwischen dem Überfall auf Polen und der Invasion in Frankreich. Man nannte diese Phase später drôle de guerre, den Witz- oder Sitzkrieg vor dem Blitzkrieg. Jünger saß in dieser angespannten Zeit abends beim Tee in seiner Auwaldhütte und schrieb in Erwartung des sich fortsetzenden Kriegs kunstsinnige Texte über Frauen, Meerestiere, Münzen, Geschmeide und bunten Schaum.

So arm war keiner dort, dass nicht das Erste und Beste, das sein Garten an Früchten brachte, in die Denker­hütten und Dichterklausen ging.
Ernst Jünger

Kunst ist eben in der Lage, auch etwas so Vorübergehendes wie einen Sommer in einer Hütte zu sublimieren. Im Jahr 2018 etwa konnte man in der venezianischen Fondazione Prada die Ausstellung „Machines à penser“ sehen, in der erzwungene oder frei­willige Denkhütten großer Geister die Hauptrolle spielten. Neben den architektonischen Rekonstruktionen der berühmten Hütten von Heidegger und Wittgenstein wurde dort der architektonische Archetyp der Hütte als genereller Ort der Flucht und des Rückzugs betrachtet, ein Ort, wo Denker:innen ihre tiefsten Gedanken ausbreiten können. Diese Isolation kann gewählt oder auferlegt sein: Sie scheint in beiden Fällen inspirierend zu sein, weil sie mit Muße verbunden ist. Nichts lenkt ab. Denkhütten sind Orte des Rückzugs in ihrer elementarsten architektonischen Form und ­damit eine unerschöpfliche Inspirationsquelle für Künstler:innen, denen man dann besser aus der Sonne gehen möge.

Friede den Hütten! Krieg den Palästen!
Georg Büchner

Haus von Ludwig Wittgenstein, Skjolden/NO

Auf der Suche nach einem ruhigen Rückzugsort reiste Ludwig Wittgenstein im Jahr 1913 zum ersten Mal nach Skjolden, einem kleinen Dorf am Ufer des norwegischen Lusterfjords. Dort plante und beauftragte er die Errichtung ­eines Hauses am steilen Ufer des Eidsvatnet, eines Sees am nordöstlichen ­Ende des Fjords. Im Jahr darauf wurde das Holzhaus auf steinerner Fundamentplatte fertiggestellt, aufgrund des Ersten Weltkriegs kehrte Wittgenstein jedoch erst 1921 dorthin zurück. In den Jahren 1936 und 1937 zog er sich für mehrere Monate in das Haus zurück, um an seinem zweiten Hauptwerk „Philosophische Untersuchungen“ zu arbeiten. Wittgenstein hielt sich 1950, im Jahr vor seinem Tod, zum letzten Mal am Eidsvatnet auf. 1958 wurde das Haus abgetragen und im Stadtzentrum von Skjolden in veränderter Form wiederaufgebaut. 2014 gründete sich die Wittgenstein-Stiftung in Skjolden und setzte sich erfolgreich für eine Rückübersiedelung des Hauses an seinen ursprünglichen Standort ein. 2018 begann die Rekonstruktion auf der noch bestehenden Fundamentplatte, wobei etwa 90 Prozent des Hauses aus originalen Bauteilen zusammengefügt ­werden konnten. 2019 wurde Wittgensteins Haus feierlich eröffnet und steht seither Studiengruppen und individuellen Besucher:innen offen.

Hütte von Martin Heidegger, Todtnauberg im Schwarzwald/DE

Oberhalb der Stadt Todtnau im Schwarzwald auf etwa 1.150 Meter Seehöhe erwarb Elfriede Heidegger, Martin Heideggers ­Ehefrau, Anfang der 1920er Jahre ein Grundstück, zeichnete den Grundriss der 6 mal 7 Meter großen Hütte und beauftragte einen Bauern aus Todtnauberg mit deren Errichtung. Ab 1922 nutzte Martin Heidegger, zu dem Zeitpunkt an der Universität Freiburg tätig, die Hütte regelmäßig als „einen stillen Ort zum Arbeiten und Denken“. So soll etwa sein Hauptwerk „Sein und Zeit“ (1927) vorrangig dort entstanden sein. 1933 trat Heidegger der NSDAP bei, wurde zum Rektor der Universität Freiburg berufen und engagierte sich in dieser Position für die nationalsozialistische Ideologie, indem er in seiner Antrittsrede eine „grundlegende Erneuerung der Universität – mit dem Nationalsozialismus als bestimmende Kraft und einer Bindung an die Volksgemeinschaft“ forderte. Heidegger stilisierte die Hütte zum Symbol für die antimoderne und technikfeindliche „Blut und Boden“-Ideologie – 1946 wurde ihm aufgrund seiner ­Verflechtungen mit dem Nationalsozialismus die Lehrbefugnis entzogen.
1967 war die Hütte Schauplatz des berühmten Treffens zwischen dem jüdischen Lyriker und Shoah-Überlebenden Paul Celan und Martin Heidegger. ­Celan, der seine Familie in einem deutschen Lager in der Ukraine verloren hatte, ­bemühte sich erfolglos, Heidegger zu einer Äußerung über dessen NS-Vergangenheit zu bewegen. Der Eintrag Celans im Hüttenbuch verweist auf diese Hoffnung: „Ins Hüttenbuch, mit dem Blick auf den Brunnenstern, mit der Hoffnung auf ein kommendes Wort im Herzen. Am 25. Juli 1967/Paul Celan.“ Noch heute befindet sich die Hütte im Besitz der Familie Heidegger und wird privat genutzt.

Le Cabanon von Le Corbusier, Roquebrune-Cap-Martin/FR

An der Côte d’Azur, nordöstlich von Monaco an einem Hang gelegen, befindet sich ein heute als Cap Moderne bezeichnetes Konglomerat aus zwischen 1926 und 1952 errichteten Gebäuden. Die von der irischen Architektin und Designerin Eileen Gray geplante und 1929 dort fertiggestellte Villa E-1027 galt bereits zum Zeitpunkt ihrer Entstehung als Ikone der modernen Architektur. Wie Eileen Gray selbst geriet die Villa weitgehend in Vergessenheit und wurde teils fälschlicherweise Le Corbusier zugeschrieben. Er und seine Frau Yvonne waren jedoch regelmäßig dort zu Gast und erwarben Anfang der 1950er Jahre ein kleines Grundstück neben dem 1949 errichteten Restaurant „L’Étoile de Mer“, das ebenfalls Teil des Ensembles ist. Dort plante Le Corbusier für den Restaurantbesitzer fünf angrenzende minimalistische Ferienwohnzellen.

„Ich habe ein Schloss an der Côte d’Azur, es misst 3,66 auf 3,66 Meter. Es ist für meine Frau, es ist sehr komfortabel und gemütlich.“ So beschreibt Le Corbusier 1952 die schlussendlich von ihm selbst genutzte Minimalhütte „Le Cabanon“. Mit einer Fläche von 13,4 m2 und einer Höhe von 2,26 Metern – die Größe des Modulors mit ausgestrecktem Arm – bietet das Haus alles, was Le Corbusier für seine vier- bis sechswöchigen Aufenthalte im Sommer benötigte: eine Bank zum Schlafen, ein Becken zum Waschen, einen Tisch zum Schreiben, mobile Hocker, einen Kleiderschrank sowie eine per Vorhang abgetrennte Toilette – allesamt multifunktionale Möbel. Küche gibt es keine, dafür eine direkte, innen­liegende Verbindungstür zum angrenzenden Restaurant. Die Dusche befindet sich im Freien inmitten der mediterranen Vegetation.

„Ich fühle mich in meinem Cabanon so wohl, dass ich hier mein Leben beenden könnte“, schrieb Le Corbusier 1952 dem Fotografen Brassaï. So sollte es auch kommen, 1965 ertrank er bei seinem täglichen Bad im Meer und wurde auf dem örtlichen Friedhof beigesetzt. 2016 wurde Le Cabanon in die Liste des UNESCO-
Weltkulturerbes aufgenommen. Es steht Besucher:innen offen.


verfasst von

Klaus-Jürgen Bauer

geboren 1963 in Wien. Architekturstudium in Wien in der Meisterklasse Holzbauer. Er ist Architekt mit eigenem Büro in Eisenstadt, Kurator sowie Mitglied des Fachbeirats der big Art und des P.E.N. Er hält Vorträge im In- und Ausland und pflegt eine umfassende Publikationstätigkeit.

Linda Lackner

Redakteurin der Zeitschrift Zuschnitt

Erschienen in

Zuschnitt 85
Pause, Auszeit, Holz

Ob Freizeit, Ferien oder Wochenende – eine Pause vom Alltag muss nicht immer ein großes Spektakel sein. Wir zeigen Orte der Naherholung und Räume für eine Auszeit, geprägt von Holz.

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Zuschnitt 85 - Pause, Auszeit, Holz