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Holz(an)stoß
Chen Zhen

erschienen in
Zuschnitt 88 Reuse und Recycling, März 2023

Der 1955 in Shanghai geborene Künstler Chen Zhen gilt als einer der führenden Vertreter der chinesischen Avantgarde und als wichtiger Vermittler zwischen der Kunst des Ostens und des Westens. Sein Werk bietet vielfältige Interpretationsmöglichkeiten und präsentiert eine manchmal traumhafte und ­beunruhigende Vision der Welt. Es ist sein eigenes spirituelles Leben, das der Künstler in den 1980er Jahren während eines Retreats in Tibet entdeckte. Da er seit seinem 25. Lebensjahr an Blutarmut (Anämie) litt, begleitete ihn diese spirituelle Reise sein Leben lang.

Nachdem er 1986 nach Paris emigriert war, um an der Ecole Nationale Suprieure des Beaux-Arts zu studieren, gab Chen Zhen die Malerei zugunsten von Installationen auf und begann ab 1989 mit Objekten zu arbeiten, die die Beziehung zwischen Mensch, Konsumgesellschaft und Natur hinterfragen.

Dabei ging der Künstler von einem Modell des transkulturellen Denkens aus, das er als „Transexperience“ bezeichnete: ein transzendenter Ort, an dem sich die wechselseitige Reibung zwischen verschiedenen Erfahrungen manifestiert. Zu einer Zeit, als es weder Multikulturalismus noch Globalisierung gab, interessierte sich Chen für eine kulturübergreifende gesellschaftliche Dynamik. In seiner Arbeit spiegeln sich verschiedene Kulturen, soziale Kontexte und ästhetische Ansätze in einer zunehmend globalisierten Welt wider. Ein zentrales Thema war die Schaffung von Harmonie durch Unterschiede. Indem Chen Zhen den menschlichen Körper, Krankheit und die Medizin als Metaphern verwendete, erforschte er die komplizierte und oft paradoxe Beziehung zwischen dem Materiellen und dem Spirituellen, der Gemeinschaft und dem Einzelnen sowie innen und außen. Die „Resonanz“ zwischen Menschen, Ländern oder Kulturen ist besonders präsent in der hier abgebildeten Arbeit „Round Table – Side by Side“ (1997), die ursprünglich Teil eines Projekts aus drei Tischen war, von dem aber nur zwei gebaut wurden.

„Side by Side“ besteht aus zwei in der Mitte ver­bundenen Holztischen, die mit orientalischen und abendländischen Sesseln bestückt sind. Viele der von Zhen benutzten Materialien sind entweder ­reused – wie in diesem Fall die gefundenen Sessel – oder natürliche Materialien. Die Arbeit berührt die Schwierigkeit des interkulturellen Dialogs, die der Künstler als „Metapher des ewigen Missverständnisses“ beschrieb. Sie rühre daher, „dass der Wunsch nach Interaktion häufig mit der Unmöglichkeit konfrontiert ist, die Unterschiede in den Kulturen und Ideologien wirklich zu überwinden“. Als Exilant war sich Chen Zhen dieser Kluft zwischen Ost und West bewusst und versuchte sie mit seiner eigenen Sprache zu füllen – ganz so, als ­wolle er eine Verbindung zwischen verschiedenen Formen des Wissens und der Kompetenz in den ­Bereichen Kunst, Medizin, Ökologie und Soziologie herstellen. Der aus einer Arztfamilie stammende Chen Zhen erkrankte Ende der 1980er Jahre an ­einer unheilbaren Krankheit, die nach und nach sein Werk durchdrang. Schließlich fasste er Kunst und Medizin als einander ergänzende Teile derselben Dialektik auf, wie Yin und Yang. Sein Lebenswille und seine schöpferische Energie waren inspiriert von den Widersprüchen, Konflikten und der Schönheit der Welt. Sie sind es, die Chen Zhen in seinen Werken hinterließ und an die Betrachter:innen weitergab.

Chen Zhen

geboren 1955 in Shanghai, gestorben 2000 in Paris
Studium an der Shanghai School of Fine Arts and Crafts, 1973 – 1976

Einzelausstellungen (Auswahl)

2022

  • Résonances, Musée ­Cernuschi, Paris

2020

  • Short-circuits, kuratiert von Vicente Todolì, Pirelli HangarBicocca, Mailand

2017

  • Galleria Continua, Havanna

2016

  • Jardin Lavoir, Galleria ­Continua Les Moulins, Boissy-le-Châtel

2015

  • Frith Street Gallery, in Zusammenarbeit mit ­Galleria Continua, London
  • Without going to New York and Paris, life could be internationalized, kuratiert von Hou Hanru, Rockbund Art Museum, Shanghai

Gruppenausstellungen (Auswahl)

2022

  • Opera Opera. Allegro ma non troppo, PalaisPopulaire, Berlin
  • Geometria delle forme, ­Galleria Continua, Rom

2021

  • Corpus Domini. Dal corpo glorioso alle rovine dell’anima, Palazzo Reale, Mailand
  • À bras ouverts, Galleria ­Continua, Paris

2020

  • Shanghai Waves. Historical Archives and Works of Shanghai Biennale, kuratiert von Power Station of Art, Power Station of Art, Shanghai
  • The Allure of Matter. Material Art from China, Smart Museum of Art, Chicago

2019

  • Society Guidance. Part II, UCCA Center for Contemporary Art, Peking
  • The Allure of Matter. Material Art from China, Los Angeles County Museum of Art (LACMA), Los Angeles

2018

  • Art and China after 1989. Theater of the World, kuratiert von Alexandra Munroe, Philip Tinari und Hou Hanru, Guggenheim Museum, Bilbao
  • The Szechwan Tale. China, Theatre and History, FM Centro per l’Arte Contemporanea, Mailand

verfasst von

Stefan Tasch

Studium der Kunstgeschichte in Wien und Edinburgh, arbeitet als freier Kurator.

Erschienen in

Zuschnitt 88
Reuse und Recycling

Wiederverwendung und Verwertung von Bauteilen und ­Baustoffen, ergänzt durch den Einsatz nachhaltiger Materialien, stehen für eine neue Praxis in der Architektur.

8,00 €

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Zuschnitt 88 - Reuse und Recycling