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Nachgefragt
Welche Potenziale bietet der Holzbau für Reuse und Recycling?

erschienen in
Zuschnitt 88 Reuse und Recycling, März 2023

Das Thema Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft prägt den Diskurs in der Architektur. Der Rückbau und die Wiederverwendung von einzelnen Elementen bis hin zu ganzen ­Gebäuden gewinnen in der Entwurfspraxis und in Planungsprozessen zunehmend an ­Bedeutung. Hinsichtlich Ressourcenschonung und nachhaltigem Bauen eröffnen Reuse und Recycling neue Möglichkeiten. Wir haben bei Markus Derix, Daniel Müller und ­Sylvia Polleres nachgefragt, welches Potenzial der Holzbau hierfür bietet und welche Herausforderungen es beim Wiedereinsatz von Holz im Bau gibt.

Baustoffe und Bauteile müssen generell und auch beim Wiedereinsatz besonderen technischen Anforderungen und Qualitäts­ansprüchen genügen. Was ist beim Mate­rial Holz hinsichtlich Reuse zu beachten und welche Möglichkeiten, um entsprechende Nachweise zu erbringen, gibt es?

Markus Derix Bauteile aus Holz eignen sich grundsätzlich sehr gut für die Wiederverwendung, weil Holz, bezogen auf seine zentralen Eigenschaften und unter entsprechenden Bedingungen (geschützt vor Feuchte), kaum an Qualität und Festigkeit einbüßt. Allerdings gibt es aktuell (noch) keine Prüfverfahren, um diese gebrauchten Bauteile neu einzuordnen.

Grundsätzlich können Festigkeitsklassen durch zerstörungsfreie Prüfmethoden wie die dynamische Elastizitätsmodulmessung und die Messung der Holzfeuchte bestimmt und die Tragfähigkeit des Bauteils bestätigt werden. Die Anforderungen sind ak­tuell jedoch (noch) nicht bauaufsichtlich ­geregelt und müssen derzeit durch Einzelfallprüfungen individuell für jedes Bauvorhaben nachgewiesen werden. Um Rechtssicherheit und gleichbleibende Qualität im Bereich der wiederverwendeten Holzbauteile zu gewährleisten, braucht es verbindliche Standards, Normen und zerstörungsfreie Prüfverfahren.

Daniel Müller Der Umgang mit Reuse-Materialien ist von Land zu Land unterschiedlich. In der Schweiz haben wir mehr Freiheiten als anderswo, der konkrete ­Materialeinsatz ist aber jeweils genau zu prüfen. Bei den Anforderungen an den Schallschutz kann zum Beispiel mehr ­Einfluss genommen werden als bei jenen an den Brandschutz. Neben normativen und rechtlichen Vorgaben sind auch individuelle Vereinbarungen mit Auftrag­geber:innen maßgeblich.

Um die technischen Anforderungen an Holz zu prüfen, eignen sich eine visuelle Beurteilung, zerstörungsfreie Prüfungen mit Ultraschall wie Silvatest oder bei kleineren Querschnitten eine Kontrolle mit einem Scanner wie WoodEye. Das muss sich jedoch noch entwickeln, ebenso die Normen und Richtlinien. Vor allem braucht es die Offenheit von Planenden und Bauträger:innen respektive Bestellenden.

Sylvia Polleres Sofern es sich um keine statisch tragenden Bauteile oder Bauprodukte handelt, sehe ich wenig Hemmnisse beim Material Holz. Müssen Bauteile ­bestimmten statischen oder bauphysikalischen Anforderungen genügen, dann stellt sich die Frage, wer sie freigibt bzw. sagen kann, dass die Anforderungen (nach wie vor) erfüllt werden. Ein weiterer Punkt können Emissionen aus alten Holzbauprodukten im Innenraum sein.

Derzeitige Systeme bilden und prüfen ­immer nur Bauprodukte im Neuzustand. Zusätzliche Kriterien für Normen und ­Verfahren, nach denen Produkte für ­denselben Einsatz oder einen „niedrigeren Einsatzlevel“ wieder genutzt werden können, werden derzeit erarbeitet. Aktuell geschieht das im Forschungsprojekt ­TimberLoop der Holzforschung Austria.

Bevor ein Produkt oder ein Bauteil wiedereingesetzt und davor eventuell geprüft und wiederzugelassen werden kann, muss es rückgebaut werden. Was muss bei einer Konstruktion berücksichtigt werden, damit der Rückbau unkompliziert und zerstörungsarm erfolgt, und welche Möglichkeiten bietet der Holzbau dafür?

Markus Derix Der Rückbaubarkeit von Holzkonstruktionen kommt bei der zirkulären Nutzung von Baumaterialien große Bedeutung zu. Vor allem sollten leicht ­demontierbare Verbindungen (am besten Steck- und Schraubverbindungen) geplant werden, die von einigen Verbindungs­mittel­herstellern auch bereits angeboten werden. Auch klassische Stabdübel-Schlitzblech-Verbindungen und selbstbohrende Holzschrauben eignen sich für den Rückbau, noch besser jedoch metrische Gewinde­stangen (Bolzen). Sie beschädigen das Bauteil nicht und können problemlos wiedereingesetzt werden.

Zudem punktet der Holzbau mit modularer Bauweise. Raummodule sind in sich tragfähig, können temporär genutzt, demontiert und an anderer Stelle – in flexibler Anordnung – neu aufgebaut werden.

Daniel Müller Beim Rückbau ist zu unterscheiden zwischen Rückbau in eine möglichst reine Materialform, welche prioritär zu betrachten ist, und der Verwendung von ganzen Bauteilen wie Fenstern, Wand- oder Deckenkonstruktionen. Bei Fenstern ergibt es beispielsweise aufgrund des Aufwands mehr Sinn, ein komplettes Fenster wiederzuverwenden, als es in einzelne ­Materialien zu zerlegen. Mechanische Verbindungsmittel wie Verschraubungen oder Holz-Holz-Verbindungen stehen gegenüber geklebten im Vorteil. Allerdings gilt es für jede Lastauswirkung zu prüfen, was gesamtheitlich ideal ist. Entscheidend ist hierbei die Dokumentation: Aus den Plänen soll ersichtlich sein, wie die einzelnen Schichten und Baustoffe befestigt sind und wie sie wieder getrennt werden können.

Sylvia Polleres Das Potenzial des Holzbaus, ganze Bauteile wie Wände, Decken, Dächer oder gar ganze Häuser rückzubauen, ist grundsätzlich sehr hoch. Schwierigkeiten ergeben sich aber aus der Vielschichtigkeit in einer gemischten Bauweise oder beim möglichst zerstörungsfreien Ausbau einzelner Baustoffe aus einem Verbund. Sinnvoll und effizient ist es daher, in Richtung Bauteilwiedernutzung weiterzudenken und die Vorteile der modularen Bauweise und seriellen Fertigung zu nutzen.

Bei Rückbaubarkeit und Reuse spielen weitere Faktoren eine Rolle, darunter die Qualität und Sorgfalt in der Herstellung des Ausgangsprodukts, das Mitdenken der Rückbaubarkeit bei neuen Bauvorhaben, eine entsprechende Material- und Gebäudedokumentation sowie die Digitalisierung in Planung und Fertigung. Wie stehen dem die Planungsabläufe beim Bauen mit Holz und Fertigungsprozesse im Holzbau gegenüber?

Markus Derix Die gängige Praxis beim Bauen mit Holz und in der Herstellung von Holzprodukten ist eindeutig ein Pluspunkt. Die sehr früh begonnene, konsequente 3D-Planung im Holzbau war eine der Grundvoraussetzungen für den heute ex­trem hohen Vorfertigungs- und Automatisierungsgrad. Eine hohe Vorfertigung und ein detaillierter, digitaler Datenbestand sind wiederum eine elementare Voraussetzung für eine zukünftige Rückbaubarkeit und Nutzung gebrauchter Bauteile. Der Holzbau ist generell hervorragend aufgestellt, hat jedoch Entwicklungspotenzial im Bereich der Schnittstellen und des ­Datenformates. Denn trotz BIM gibt es nach wie vor keine fest etablierten bzw. zur Gänze funktionierenden Standards der Datenübergabe.

Daniel Müller Das Konzept des Rückbaus fängt schon beim Design an, der Holzbau mit seinen vielfältigen Möglichkeiten ist anderen Bauweisen dabei einen Schritt voraus. Denn aufgrund der Fertigungsprozesse ist es bereits Standard, die Planung bis ins Detail zu gestalten und damit auch die Rückbaubarkeit planerisch einfließen zu lassen. Wichtig ist der Austausch zwischen den Planenden, um Statik, Brandschutz, Bauphysik, Schallschutz, Rückbau und Wiederverwendung bis ins Detail einfließen zu lassen.

Beim Rückbau ist entscheidend, die vorhandenen und damals eingesetzten Materia­lien zu kennen. Digitale Gebäudemodelle mit Angaben zu Materialien, deren Mengen und Qualität sowie Verbindungsmitteln helfen dabei. Im Holzbau, wo die Konstruktion üblicherweise in einem 3D-Gebäudemodell erstellt wird, sind diese Angaben bereits verfügbar.

Sylvia Polleres Die gängigen Planungsabläufe, Fertigungs- und Montageprozesse im Holzbau bringen bereits reuse-begün­stigende Eigenschaften mit sich. Die standardisierte Fertigung gewährleistet eine hohe Qualitätssicherung, Präzision und Materialeffizienz. Die gängigen digitalisierten Planungsprozesse etwa in der Werkplanung haben den Vorteil, dass ­damit eine genaue Mengenerfassung, ­exakter Bauteilaufbau, Baustoffeinsatz und so weiter definiert sind.

Das Potenzial ist aber insofern nicht ausgeschöpft, als diese Informationen derzeit meist noch beim jeweiligen Hersteller bleiben und nicht zeitgerecht denen zur Verfügung stehen, die sie für die Wiederverwendung von Bauteilen sowie für ­Um- oder Rückbauarbeiten benötigen. Die aktuellen Entwicklungen der Bauprozesse, Datenverwaltungs- und Planungsmöglichkeiten (BIM) können diese Lücke in der Kommunikation bzw. Datenbereitstellung hoffentlich zukünftig schließen.

Neben dem Bekenntnis zum Wiedereinsatz seitens der Auftraggeber:innen und einer entsprechenden kreislauffähigen Planung stehen auch Hersteller und Industrie in der Verantwortung, Produkte und Konzepte im Sinne der Kreislaufwirtschaft anzubieten. Welchen Beitrag können sie dazu leisten?

Markus Derix Sicherlich einen großen. ­Daher haben wir bereits 2021 als erstes Unternehmen der Branche eine Rück­nahmeverpflichtung für unsere Bauteile standardmäßig eingeführt. Wichtig wäre nun, zum einen die Standards und Regulatorien/Normen rechtsverbindlich zu ­konkretisieren und zum anderen sämtliche Baubeteiligte dazu zu bringen, Gebäude rückbaubar zu konzipieren, das digitale Modell in einer entsprechenden Datenbank zu registrieren (Gebäuderessourcenpass) und dann im nächsten Schritt zukünftig auch mit gebrauchten Bauteilen zu planen und zu bauen.

Daniel Müller Wir müssen über neue Konzepte sprechen, die weg vom Besitz hin zur Nutzung gehen. Laufend kommen Anbie­ter:innen mit Zugeständnissen von Rücknahmeverpflichtungen hinzu. Nicht zu ­vergessen ist das Thema Kaskadennutzung und Mehrfachverwendung, um die Umweltauswirkungen aus der Herstellung möglichst gering zu halten. Die Holzindustrie ist außerdem gefordert, den Wandel zu trennbaren Bauteilen mitzugehen. Hier gibt es Forschungs- und Entwicklungs­bedarf, etwa in der Frage, wie Wände und Decken mit möglichst hoher Materialgüte getrennt werden können. Dabei sollten wir jedoch die möglichst emissionsfreie Herstellung von Bauprodukten nicht aus den Augen verlieren.

Sylvia Polleres Jedes Bauwerk, das nicht abgerissen, sondern im besten Fall saniert, umgebaut oder auch rückgebaut werden kann, ist bestmöglich zu nutzen. Die Rücknahme von Bauteilen oder ganzen Gebäuden wird teilweise bereits angeboten – das muss möglichst rasch auch im großen Stil funktionieren. Neue Konzepte der Rücknahme oder von pay per use, wo Bauteile oder Elemente gegen Gebühr/Miete zur Verfügung gestellt werden, sind derzeit eine Nische, können aber ­in jedem Fall ergänzend wirken. Die Suche nach möglichen Käufer:innen oder der Abriss nach Ende der Nutzungsphase könnte vermieden und die Bauteile erneut eingesetzt werden.

Die Entwicklung einer zentralen Erfassung des vorhandenen Materials wäre ein ebenfalls großer Schritt. Neben dem Material- und Rohstofflager, das durch Neubauten ständig gespeist wird, wäre vor allem interessant zu wissen, was durch den Abbau oder Rückbau der Bestandsbauten grundsätzlich zur Verfügung steht und in den nächsten Jahren angeboten werden kann. Bis dato wissen wir nur sehr wenig darüber, was und wie viel derzeit bereits verbaut ist.

Markus Derix
Diplom-Ingenieur, Geschäftsführender Inhaber der DERIX-Gruppe
www.derix.de

Daniel Müller
Diplomierter Holzingenieur, Bereichsleiter Bauphysik bei der Pirmin Jung Schweiz AG, Projektleiter der Studie Rückbau und Wiederverwendung von Holzbauten, verfasst im Auftrag des schweizerischen Bundesamtes für Umwelt (BAFU), Abteilung Wald
www.pirminjung.ch

Sylvia Polleres
Ingenieurin für Holzwirtschaft, ­Bereichsleiterin Holzhausbau an der Holzforschung Austria
www.holzforschung.at


verfasst von

Christina Simmel

leitende Redakteurin der Zeitschrift Zuschnitt

Erschienen in

Zuschnitt 88
Reuse und Recycling

Wiederverwendung und Verwertung von Bauteilen und ­Baustoffen, ergänzt durch den Einsatz nachhaltiger Materialien, stehen für eine neue Praxis in der Architektur.

8,00 €

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Zuschnitt 88 - Reuse und Recycling