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Wintersport in der Bahnhofshalle

erschienen in
Zuschnitt 89 Holz und Spiele, Juni 2023

Mit dem Ende der Habsburgermonarchie hatte die Nordwestbahn, einst wichtigste Verkehrsader nach Böhmen und Mähren, ihre ­Bedeutung eingebüßt. Die seit 1924 verwaiste Nordwestbahnhalle in der Brigittenau wurde für verschiedene politische und sportliche Veranstaltungen genutzt, doch Konzepte für eine dauerhafte Bespielung fehlten. Das änderte sich 1927 schlagartig, als in der Halle auf Initiative des norwegischen Skispringers und Filmstars Dagfinn Carlsen, eines Wahlwieners, der „1. permanente Schnee­palast der Welt“ seinen Betrieb aufnahm. Die feierliche Eröffnung der Indoor-Wintersportanlage am 26. November 1927 war zwar von einem Attentatsversuch auf den sozialdemokratischen Wiener Bürgermeister Karl Seitz überschattet, doch zog die künstliche Winterlandschaft mit Rodelbahn (samt elektrischem Rodelaufzug), zwei Skipisten und einer Sprungschanze rasch die Aufmerksamkeit der hedonistisch gesinnten Presse auf sich. Vergleiche zu mondänen Skiorten wie Kitzbühel und St. Moritz steigerten anfänglich den Besucherandrang – ganz Wien wollte jene Winterreise antreten, die ihr Glücksversprechen bereits am Bahnhof einlöst.

Die Konstruktion der Anlage war beachtlich: Eine 64 Meter ­lange, fast 17 Meter hohe und 28 Meter breite Pistenattrappe reichte in der Höhe bis ins Eisenfachwerk des Hallendachs hinauf. Die Konstruktion des Schneepalasts aus Kanthölzern im Achsmaß von 5 Metern mit diagonalen Auskreuzungen wurde von den Holzwerken Hermann Otte AG umgesetzt, die bereits die Zimmermannsarbeiten aller bedeutenden Ringstraßenbauten ausgeführt hatten. Echte Fichtenbäume zierten die alpine Kulisse, auf der 4.000 m2 großen Sportpiste lagen Kokos- und Bürstenmatten mit einer 10 cm dicken Schicht aus künstlichem Schnee. Dieses Gemisch aus Waschsoda und Holzspänen (nach einem Patent des englischen Chemikers Laurence Clarke Ayscough) war weder gefroren noch nass und wurde in einer chemischen Fabrik im nieder­österreichischen Moosbierbaum erzeugt. Der blendend weiße Hallenschnee sei überraschend gleitfähig, hieß es in Zeitungs­berichten, man falle weich, aber „es juckt ein bisschen“. Weniger sportliche Naturen konnten sich im Restaurant hinter dem Auslauf laben und zusehen, wie sich andere in mondäner Leihausrüstung über die künstliche Piste mühten.

Anregung für die neue Freizeitattraktion hatte sich Carlsen wenige Monate zuvor im temporären Berliner Schneepalast geholt, einem vom Wiener Theaterarchitekten Emil Pirchan gestalteten Wintertraum in einer Autohalle am Kaiserdamm. Trotz des hohen finanziellen und gestalterischen Einsatzes fand der Wiener Schneepalast jedoch schon nach einer Saison ein jähes Ende. Die durchmischte Berichterstattung und ein ungewöhnlich schneereicher Winter ließen den Besucherstrom versiegen, der erwartete ökonomische Erfolg blieb aus. Schon 1928 war die ambitionierte Freizeitanlage in der Nordwestbahnhalle „Schnee von gestern“, die Konstruktion wurde abgetragen und das Bauholz verkauft.


verfasst von

Gabriele Kaiser

freie Architekturpublizistin und Kuratorin; 2010–2016 Leiterin des architekturforum oberösterreich (afo); seit 2009 Lehrauftrag an der Kunstuniversität Linz; lebt und arbeitet in Wien.

Erschienen in

Zuschnitt 89
Holz und Spiele

Velodrom, Dreifachturnhalle, Kegelbahn – in diesem Zuschnitt dreht sich alles um das Bauen für den Sport.

8,00 €

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Zuschnitt 89 - Holz und Spiele