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Essay – Holz im Alltag
Vom Übersehenen zum Sichtbaren und retour

erschienen in
Zuschnitt 83 Holz im Alltag, Dezember 2021

Der Fisch bemerkt, dass es Wasser überhaupt gibt, erst in der Luft. Dem Angler verdankt er das erste und zugleich letzte Begreifen seiner Welt. Ähnlich ging es wohl in alten Zeiten jenen Menschen, die in einem Blockhaus im Wald wohnten. Wenn nicht nur das gesamte Haus, sondern auch beinahe alle Gebrauchsdinge aus Holz sind, hat dieses Material wenig Unterscheidungskraft und Bedeutung.

Die frühen Tempel der griechischen Antike waren aus Holz. Aristoteles verwendete Hyle, das Wort für Holz, als abstrakten Allgemeinbegriff für Materie im Gegensatz zu Form. Holz galt als Stoff, der von Technik und Arbeit geformt wird. Als Rohstoff für alles Menschengemachte. Wo alles hölzern ist, ergibt es wenig Sinn, Holz von anderen Materialien zu unterscheiden – der Allgemeinstoff wird zum Stoff im Allgemeinen, zur Materie schlechthin. Das universelle Material Holz hatte so wenig eigene Bedeutung, dass seine Umdeutung zur abstrakten Materie sinnvoll erschien. In einer Menschenwelt aus Holz ist dieses fast überall sichtbar. Doch gerade die Inflation an Sichtbarkeit lässt seinen Wert für die Anschauung sinken. Das allzu Alltägliche wird von der Aufmerksamkeit übergangen, sinkt unter die Wahrnehmungsschwelle, wird so selbstverständlich, dass es nicht der Rede wert ist. Das Allgemeine ist nicht bemerkenswert und lohnt kein Bestaunen. Die Beziehung des Menschen zum Holz richtete sich damals auf den daraus geformten Gegenstand und nicht auf dessen Material. Allholz ist kein Holz, könnte man verkürzend sagen oder auch: Übersehenes Holz ist gewissermaßen unsichtbar. In sprachloser Stille ist es im Alltag permanent präsent.

Seit der industriellen Revolution bekam das alte Universalmaterial immer mehr Konkurrenz. Metall, Porzellan und Glas etablierten sich zunehmend auch in der Dingwelt ärmerer Schichten. So wurde Holz von etwas Allgemeinem zu etwas Speziellem, vom Inbegriff der Materie zum für eine Verwendung wählbaren Material, zu einem besonderen, bestimmten Rohstoff für etwas. Dieser Begriff von Holz ist bis heute, neben einigen anderen, noch in Gebrauch. Am Höhepunkt des Plastikzeitalters wurde Holz aus dem Alltag verdrängt. Kunststoff sollte der neue Universalstoff alles Künstlichen werden, Möbel, Spielzeug und Utensilien aller Art bewiesen Modernität. Holz wurde durch bunte Lackierung, aber auch in Resopal-Pressspanplatten unsichtbar gemacht.

Doch die Holz-Scham währte nicht lange. Der mit technoidkünstlichem Design gefeierte Fortschrittsglaube der 1970er Jahre provozierte einen Kulturbruch. Die ersten Grünen und „Alternativen“ wandten sich dem „Natürlichen“ zu. Nichts hätte sich besser geeignet, diese revolutionäre Gesinnung zu demonstrieren, als das Holz. Gerade erst verschwunden, feierte es seine stolze Wiederauferstehung in einer politischen, kapitalismuskritischen, technikfeindlichen und antiurbanen Mission. Nun ging es um die Sichtbarkeit, und zwar um die gesteigerte Sichtbarkeit eines Zur-Schau-Stellens des Holzes als Holz, mit selbstreflexiver Performanz. Hier gelang dem Astloch eine späte Karriere. Seit je unterprivilegiert und peinlich hinter Furnier verborgen, wurde es nun Beweis und Zeichen für die Wertschätzung des Ursprünglichen, Authentischen, Rohen und Unbehandelten. Menschliche Arbeit und Technik sollten dem die Natur repräsentierenden Material möglichst wenig Form und Glätte aufzwingen. In hellem Fichtenholz kamen die dunklen Astlöcher mit dem höchsten Kontrast zur gesinnungsträchtigen Erscheinung.

Neben die traditionelle Betrachtungsweise des Holzes als Stoff mit Form rückte damit dessen Oberfläche ins Zentrum des Interesses. Immer schon hatte jedes hölzerne Ding eine Oberfläche gehabt. Lackierungen hatten diese mitunter unsichtbar gemacht. Furniere hatten seine rohe Oberfläche mittels einer edleren Holzoberfläche verdeckt, dabei aber das Material aufgewertet und bewundernde Blicke auf die kultivierte Außenschicht gezogen. Erst als die „natürliche“ Oberfläche von einer stummen übersehenen zu einer sprechenden, ikonisch plakativen und agitativen wurde, gewann sie jene Eigenständigkeit, die sie vom Material ablösbar machte. Seither ist Holz zu einem Medium geworden, das uns Mythen erzählt, Werte vermittelt, Imaginationen des Natürlichen versinnbildlicht und nicht zuletzt eine grüne Utopie der Weltrettung verheißt.

Umgeben von Holzimitat-Laminat-Böden und Pressspanmöbeln in Holzoptik-Dekor sehnt sich der postmoderne Mensch nach spurlosem Dasein in einer regenerativen Umwelt. Woraus könnte seine künftige Alltagswelt bestehen, wenn nicht aus Holz? Zahnbürsten, Teller, Becher, Dosen, Lampen, Küchenutensilien und Bestecke, Fahrräder, alle Bauwerke, Brücken, ja sogar Automobile gab es aus Holz und wird es wohl wieder geben – freilich begleitet von recycelten Materialen, solange es noch welche gibt. Irgendwann könnte Holz im Alltag wieder so allgegenwärtig sein, wie es einst war. Und so unsichtbar, weil wir es wieder übersehen werden. Wer ein neues Auto bestaunt, sagt ja auch nicht: „Oh, es ist aus Materie!“


verfasst von

Wolfgang Pauser

ist als Konzeptionist, Autor und Berater spezialisiert auf kulturwissenschaftliche Produkt- und Markenanalysen
www.pauser.cc

Erschienen in

Zuschnitt 83
Holz im Alltag

In diesem Zuschnitt zeigen wir, in welcher Vielfalt uns Holz täglich begegnet!

8,00 €

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Zuschnitt 83 - Holz im Alltag