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Essay – Pause, Auszeit, Holz
À la recherche du … aktive Ruh’

erschienen in
Zuschnitt 85 Pause, Auszeit, Holz, März 2022

Der lateinische Begriff otium leitet sich vom griechischen σχολή (schola) ab: Die schola war die Zeit, in der man sich von den ­Mühen des Alltags ausruhte, um sich dem Studium, dem Denken zu widmen; damit unterscheidet sich das otium vom negotium, der Erledigung von Geschäften. Die Bedeutung ist ähnlich der von Muße, der Zeit, die eine Person nach eigenem Wunsch nutzen kann (aus althochdeutsch muoza: Gelegenheit, Möglichkeit). Das Otium ist also die inaktive Zeit der Muße, die eine offene ­Begegnung mit dem anderen als sich selbst ermöglicht. Die erste müßige Handlung ist das Umherwandern ohne ersichtlichen Zweck, ohne Verpflichtungen, aber mit wachen Sinnen.

Freiheit von aufgezwungenen zeitlichen und/oder räumlichen Strukturen, Streben nach lustvoller Entdeckung: Die zweite müßige Handlung ist das Ausbrechen aus den eigenen Grenzen und passiven Konventionen. Das Otium ist vor allem eine persönliche und einsame Aktivität, die dem Bedürfnis entspricht, die Zeit der ­Verpflichtungen zu vergessen, um eine spontane Empfänglichkeit für die Welt zu entwickeln.

Die dritte müßige Handlung ist die Kontemplation in Empathie. Das Otium ist der verlangsamte Moment, sich aktiv im Verstehen zu bilden und – wenn es möglich ist – Zeiten und Modi des gewohn­ten Handelns zu verschieben, um sich selbst zwischen den Zeilen zu entdecken. Um zu sehen, zu verstehen und sich zu erinnern, muss man abschweifen, sodass das Vorher und Nachher zu einem Währenddessen wird. Das Otium ist Zeit, die unmerklich, aber ­folgenreich fließt, so wie ein Baum, der unerwartet und unaufhaltsam wächst.

Das Otium ist schließlich eine geistige Dimension, die Zeit und Raum erweitert: Sie ist reich an Perspektiven und Dynamik. Es ist das müßige Leben, frei und aktiv.

Literaturzitate zu Otium und Muße

Robert Walser, Der Spaziergang, 1919

Eines Vormittags, da mich die Lust, einen Spaziergang zu machen, ankam, setzte ich den Hut auf den Kopf, lief aus dem Schreib- oder Geisterzimmer weg, und die Treppe hinunter, um auf die Strasse zu eilen. […] Die Morgenwelt, die sich vor mir ausbreitete, erschien mir so schön, als sehe ich sie zum ersten Mal. Alles, was ich erblickte, machte mir den angenehmen Eindruck der Freundlichkeit, Güte und Jugend. Rasch vergaß ich, dass ich oben in ­meiner Stube soeben noch düster über ein leeres Blatt Papier hingebrütet hatte. Trauer, Schmerz und alle schweren Gedanken waren wie verschwunden, obschon ich einen gewissen Ernst noch vor und hinter mir lebhaft spürte.

Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise, 1817

Auf dem Brenner, den 8. September 1786, abends Hierher gekommen, gleichsam gezwungen, endlich an einen Ruhepunkt, an einen stillen Ort, wie ich ihn mir nur hätte wünschen können. Es war ein Tag, den man jahrelang in der Erinnerung genießen kann.

Rom, den 2. Dezember 1786 Sixtinische Kapelle, Teil des Decken­gemäldes von ­Michelangelo Diese Werke nun öfter gegeneinander zu sehen, mit mehr Musse und ohne Vorurteil zu vergleichen, muss eine grosse Freude gewähren; denn anfangs ist doch alle Teilnahme nur einseitig.

Rom, den 25. Januar 1787 Man kann das ­Gegenwärtige nicht ohne das Vergangene erkennen, und die Vergleichung von beiden erfordert mehr Zeit und Ruhe.

André Aciman, Alibis. Essays on Elsewhere (ore romane), 2011

Erzwungene Sorglosigkeit und leichte Beunruhigung sind die ­besten Führer. Rom muss vor Ihren Augen schwimmen. Man lässt sich treiben und wandert und landet plötzlich, ohne zu wissen wie, auf der ­Piazza Navona oder dem Campo de‘ Fiori, San‘Andrea della Valle, dem Pantheon, der Piazza di Spagna oder der Piazza del Popolo [...] In dieser vielgestaltigen Stadt geht es darum, sich treiben zu lassen und zu verirren, und der ­kürzeste Weg zwischen zwei Punkten ist nie eine gerade ­Linie, sondern eine Acht. Genauso wie es in Rom nicht um einen Weg oder eine Vergangenheit geht, sondern um eine Ansammlung von Ver­gangenheiten: Auf einem Spaziergang begegnet man Gogol, Ovid, Piranesi, Ingres, Cäsar und Goethe; auf einem anderen Caravaggio und Casanova, Freud und Fellini, Montaigne und Mussolini, James und Joyce; und auf einem weiteren Wagner, Michelangelo, Rossini, Keats und Tasso. [Übersetzung Alberto Alessi]

Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern, 1854

Anstatt mich zu einem Professor zu begeben, machte ich ­häufig Besuche bei eigenartigen Bäumen, die man nur selten in dieser Gegend antrifft und die weit entfernt auf einer ­Weide, in Waldestiefen, im Moore oder auf einem Hügel ­standen. Ich pilgerte zur Schwarzbirke, von der hier einige schöne, zwei Fuß im Durchmesser starke Exemplare vorhanden sind, oder zu ihrer Verwandten, der Gelbbirke, die in ­ihrem losen, goldenen Gewand so lieblich duftete wie jene. Zur Buche ging ich hin, deren zierlichen Stamm, vollendet in jeder Einzelheit, malerische Flechten schmückten. Abgesehen von einigen verstreuten Exemplaren, kenne ich im ganzen Stadtbezirk nur einen einzigen kleinen Hain ansehnlicher ­Buchen. Tauben, die man einst mit Bucheckern hier in der Nähe fütterte, sollen ihn, so erzählt man, gepflanzt haben. (übersetzt von Wilhelm Nobbe)

Tao Yuanming, 17. Jahrhundert

Im verglühenden Licht der sinkenden Sonne Fasse ich eine einsame Kiefer und verweile.

Francesco Petrarca, Das einsame Leben, 1356

Gewiss ist es schön und beruhigend, nach erfolgreichen Werken des Genies in den Wald, ins Grüne oder an das Ufer eines rauschenden Flusses zu gehen, um die Last und die Müdigkeit abzulegen und gleichzeitig dem Feld des Genies neue Samen anzuvertrauen und in der Zeit, die der Ruhe und der Erholung des Geistes gewidmet ist, den Stoff für ein neues Werk vorzubereiten, das nützlich und erfreulich ist; die Ruhe ist aktiv und die Arbeit ist leise, sodass man, wenn man in den engen Bereich des Demosthenes zurückkehrt, die Saat für neue Sätze und die rechtzeitige Ernte von Worten hat; damit keine Zeit nutzlos vergeht; das gilt besonders für diejenigen, die Reden oder Geschichten verfassen; für Lieb­haber der Philosophie und Poesie, die Scharfes und Geistreiches suchen, denke ich, dass sie sich frei ihrem Genius überlassen und arbeiten sollten, wenn sie sich danach fühlen, wo sie von Ort und Zeit inspiriert werden; wo sie sich zur Arbeit bewegt fühlen, ob im Freien, im Haus, an einer Klippe oder im Schatten einer Kiefer. [Übersetzung Alberto Alessi]

Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, (Brief XXV), 1795

Die Betrachtung (Reflexion) ist das erste liberale Verhältnis des Menschen zu dem Weltall, das ihn umgibt.
Wenn die Begierde ­ihren Gegenstand unmittelbar ergreift, so rückt die Betrachtung den ihrigen in die Ferne und macht ihn eben dadurch zu ihrem wahren und unverlierbaren Eigentum, daß sie ihn vor der Leidenschaft flüchtet.

Paul Valéry, Inspirations méditerranéennes, 1933

Gewiss, nichts hat mich mehr geformt, befruchtet, belehrt – oder aufgebaut – als jene Stunden, die ich dem Studium gestohlen ­habe, äußerlich abgelenkt, aber tief im Innern der unbewussten Anbetung von drei oder vier unbestreitbaren Gottheiten gewidmet: dem Meer, dem Himmel, der Sonne. Ich entdeckte wieder, Lektüre, besser als die Dichter, besser als die Philosophen, sind gewisse Blicke, die ohne einen bestimmten oder bestimmbaren Gedanken geworfen werden, gewisse Pausen auf den reinen Elementen des Lichts, auf den weitesten, einfachsten und empfindlichsten Gegenständen unserer Daseinssphäre, die Gewohnheit, die sie schaffen, jedes Ereignis unbewusst zu berichten. Jedes Wesen, jeder Ausdruck, jede Einzelheit – bis hin zu den größten und beständigsten sichtbaren Dingen – erziehen uns, gewöhnen uns, veranlassen uns, ohne Anstrengung und ohne Nachdenken die wahre Proportion unserer Natur zu fühlen, in uns ohne Schwierigkeiten den Übergang zu unserem höchsten Grad zu finden, der auch der „menschlichste“ ist. [Übersetzung Alberto Alessi]

Giacomo Leopardi, Das Unendliche, 1819

Immer lieb war mir dieser einsame Hügel und das Gehölz, das fast ringsum ausschließt vom fernen Aufruhn der Himmel den Blick. Sitzend und schauend bild ich unendliche Räume jenseits mir ein und mehr als menschliches Schweigen und Ruhe vom Grunde der Ruh. Und über ein Kleines geht mein Herz ganz ohne Furcht damit um. Und wenn in dem Buschwerk aufrauscht der Wind, so überkommt es mich, dass ich dieses Lautsein vergleiche mit jener endlosen Stillheit. Und mir fällt das Ewige ein und daneben die alten Jahreszeiten und diese daseiende Zeit, die lebendige, tönende. Also sinkt der Gedanke mir weg ins Übermaß. Untergehen in diesem Meer ist inniger Schiffbruch. (übersetzt von Rainer Maria Rilke)


verfasst von

Alberto Alessi

Architekt, freier Kurator und Kritiker, lebt in Zürich

Erschienen in

Zuschnitt 85
Pause, Auszeit, Holz

Ob Freizeit, Ferien oder Wochenende – eine Pause vom Alltag muss nicht immer ein großes Spektakel sein. Wir zeigen Orte der Naherholung und Räume für eine Auszeit, geprägt von Holz.

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Zuschnitt 85 - Pause, Auszeit, Holz