1 – Die Treppe, das sind die Treppenstufen, eine mehrteilige Einheit also. Im Italienischen spricht man von scala(Treppe), scalinata (Freitreppe), scalone (Prunktreppe), scala a pioli (Sprossenleiter), im Deutschen von Treppe, Treppenhaus, Stiege, Leiter, im Englischen von staircase, stairway, stairwell, flight of stairs, ladder. Und während der zentrale Luftraum zwischen einzelnen Treppenläufen auf Italienisch tromba (Trompete) delle scale genannt wird, bezugnehmend auf die akustische Eigenschaft, lautet die deutsche Bezeichnung, angelehnt an die Form dieser lichten Öffnung, Treppenauge. Die geometrische Wendeltreppe dagegen wird im Italienischen zu einer sympathischen scala a chiocciola, einer »Schneckentreppe«.
2 – Die Treppe ist das konkrete Element, das emporhebend verbindet. Sie ist ein Moment des Übergangs, ein Übergangsritual.
Ihr Verbinden geschieht im schrittweisen Annähern. Eine Treppe hinaufzugehen, ist ein Akt der Eroberung, sie hinabzusteigen, ist ein Entgegengehen. Die Treppe erschafft einen vertikalen Raum, konzentriert und gerichtet. Jede Treppe hat einen Charakter, der durch ihre Gesamtform und die Einzelheiten ihrer Elemente, die Stufe und den Handlauf, bestimmt wird. Dem Wesen der beiden entsprechend kann sie mehr oder weniger fließend sein, kann Widerstand leisten, kann dazu einladen, sie hinauf- oder hinunterzurennen oder ihr Geländer hinunterzurutschen. Eine Treppe hinaufgehen lässt einen zu dem, was höher ist, aufsteigen: Schon zwei Stufen reichen aus, um eine Distanz zwischen dem, was unten ist, und dem, was oben ist, zwischen dem Alltäglichen und dem Außergewöhnlichen, zu erschaffen. Eine Treppe ist eine spirituelle Sache. Sie lässt denjenigen, der sie beschreitet, glauben, er könne sich über den schnöden Alltag erheben, und regt zum Nachdenken an: Alle heiligen Orte haben Treppen. Eine Treppe ist eine Brücke nach oben, die eine Anstrengung verlangt, einen Sieg über sich selbst. Die Treppe lässt einen aufsteigen, doch ist selbst unbeweglich: Aufzüge und Rolltreppen sind keine Treppen, weil sie einen lediglich bewegen.
3 – Treppen sind gefährlich, heldenhaft, anstrengend, spielerisch, deshalb bleiben sie in Erinnerung. Sie sind das architektonische Element, das es dem Körper ermöglicht, Schritt für Schritt die Schwerkraft zu überwinden und den Standpunkt zu ändern.
4 – Wie kann man sich einen Kriminalroman oder Thriller vorstellen ohne eine Treppe, die knarrt oder in unbekannte Räume vordringt? Die Treppe ist ein gelebtes Musikinstrument, dessen Form und Klang von seinem Material abhängen: Holz, Metall, Marmor erzeugen unterschiedliche Harmonien. Das Treppenhaus sammelt die Gerüche aller Räume, die sich zu ihm öffnen: Die Treppe ist Filter und Fährte, Schichtung und Schwelle. Jede Treppe ist das dynamische Element par excellence in der notwendigen Starrheit des Gebäudes. Die ergonomischen Anforderungen desjenigen, der sie begeht, kommen zusammen mit dem rhythmischen und räumlichen Ausdruck der Stufen: Als logische und notwendigerweise zugängliche Struktur, als Raumplan für Peripatetiker, ist die Treppe das diagonale Bindeglied zwischen X und Y, zwischen horizontal und vertikal, eine Brücke nach oben und unten. Die Treppe ist demokratisch und optimistisch, geschaffen, um von allen beschritten zu werden (Verbote sind unabhängig von ihrer physischen Beschaffenheit) und für gewöhnlich der öffentlichste Raum innerhalb des Hauses, ein Gemeingut.
5 – Die 1675 von Blondel definierte Formel (Stufenhöhe x 2 + Auftrittsfläche = 63 cm) hebt den natürlichen Zusammenhang zwischen der Treppe und dem menschlichen Körper hervor; die Anzahl der Stufen ist jedoch relativ zur Gesamtgröße des Gebäudes: bei der Treppe ist Proportion alles, sie garantiert Funktion, Stabilität und Schönheit. Maßstab auf Italienisch heißt scala: Auf einer Zeichnung ohne Maßangaben ist am Maß der Stufen die tatsächliche Größe des Ortes ablesbar.
6 – Unter den Elementen eines Hauses ist die Treppe oft das ausdrucksstärkste Alter Ego desjenigen, der es bewohnt.
7 – Die Treppe ist das Inhaltsverzeichnis eines Hauses, zu ihr hin öffnen sich alle Räume, die mit dem anderen verbunden sein sollen. Alle Kulturen thematisieren die Treppe als Abgrenzung (Hierarchie) und Vereinigung (Zugänglichkeit): Die Stufen der Gesellschaftspyramide hinaufzusteigen, bedeutet Macht und Ruhm, sie hinabzusteigen, heißt, in die Anonymität zu gleiten. Die Treppe wird zur Metapher für eine menschliche Topografie. Nicht umsonst wird im Italienischen der Begriff scala im übertragenen Sinn für Proportion, Maß, eine Abfolge von Elementen auf Basis verschiedener Kriterien von Größe, Wichtigkeit, Komplexität, Schwierigkeit usw. verwendet: scala di colori (Farbskala), scala di valori (Werteskala), scala dei tempi (Zeitskala), scala Richter (Richterskala), scala musicale (Tonleiter). Der deutsche Begriff Grad kommt vom lateinischen gradus, also Schritt, Stufe. Und auch in Wörtern wie Einstieg, Eintritt, Einstufung dient die Stufe als Zeichen für einen Anfang, eine Statusänderung, eine Schwelle zwischen verschiedenen Welten.