„In der Maria-Theresien-Straße gibt es keine Balkone“, lautete die felsenfeste Behauptung eines Mitglieds des Innsbrucker Stadt- und Ortsbildschutzes. Ich fühlte mich ertappt, blind durch die Welt zu stolpern. Doch bei einem war ich sicher, dass es ihn in der Prachtstraße Innsbrucks gab. Ich hatte ein Foto des Balkons des Rathauses in Erinnerung – jenem Gebäude, in dem wir tagten –, hakenkreuzbeflaggt mit dem GröFaZ die Hand zum Gruß erhoben. Es ging um das Sporthaus Okay, das der Bauherr, die Stubaier Gletscherbahnen, als freistehenden Eisblock in der letzten Lücke der teuersten Innsbrucker Straße errichten wollte. Im dritten Obergeschoss sollte ein Holzbalkon in den Straßenraum ragen. Ein Balkon und noch dazu in Holz in der Stadt!? Das ging 2002 noch gar nicht. Wieder auf der Straße, zählte ich 18 Balkone in der Maria-Theresien-Straße. Nicht nur ich war blind.
Allesamt waren von Menschen unbenutzte „Taubenbalkone“. An solche dachten vermutlich die Obersten Richter, als sie festlegten, was ein Balkon ist: ein untergeordneter Bauteil, dessen Länge die Hälfte der Fassadenbreite nicht überschreiten darf. Die zwei- oder dreiseitig umlaufenden Balkone vieler Tiroler Bauernhäuser waren demnach keine mehr. Auf abschüssigem Gelände oben ebenerdig zugänglich, bieten sie – hangabwärts ein Geschoss über dem Gelände – oft einen atemberaubenden Blick ins Tal.
Einst näherte sich ein Volkskundler so einem Haus von unten und sah die Altbäuerin auf dem Balkon sitzen. Er begann ein Gespräch und nach einiger Zeit bot sie ihm an, ihr auf dem Balkon Gesellschaft zu leisten. Als der gute Mann um die Ecke bog, bemerkte er, dass die Frau auf einem Plumpsklo saß und sah neben ihr ein zweites mit Blick ins Tal. Die eingehauste Version lag, wie üblich, am anderen Ende des Balkons. Ein Glück, dass diese Art sanitärer Einrichtungen verschwunden ist, bevor die Obersten Richter damit befasst wurden.
Die Balkone der alten Bauernhäuser meiner Kindheit waren sehr schmal und die Brüstung reichte den Erwachsenen nicht bis zur Hüfte. Sie wirkten leicht und elegant. Sie dienten dazu, auf horizontalen Stangen vor der Wand zusammengeknüpfte Maiskolben zu trocknen, die dann von den Kindern zu Hühnerfutter weiterverarbeitet wurden. Oder sie waren im Winter vollgeräumt mit „Stanggern“, den hölzernen Skeletten der „Heumännchen“.
Der Balkon am Haus meines Großvaters, das er sich als „weichender“ Bauernsohn in der Zwischenkriegszeit gebaut hatte, war so tief, dass auf einer Schmalseite ein Sofa Platz fand mit einem Tisch und zwei Sesseln. Und er war einigermaßen unter Dach. Hinter dem Sofa befand sich das Schlafzimmerfenster, aus dem ich leise geklettert kam, wenn ich an hellen Sommerabenden viel zu früh schlafen sollte, während alle anderen auf dem Balkon plauderten. Am anderen Ende des Balkons konnte ich durch die Ritzen und kleinen Zierausschnitte der Holzbrüstung die Welt beobachten, ohne gesehen zu werden. Meine Lieblingsmutprobe bestand darin, unbeobachtet über die Brüstung zu klettern und auf die Rasenfläche des Gartens ein Geschoss darunter zu springen.
Wohnhäuser wie dieses waren die Prototypen für die nach dem Krieg um die Dörfer grassierenden Einfamilienhäuser. Ein längerer Balkon war fixer Bestandteil. Dazu kam ein Satteldach mit einem ausbaufähigen oder ausgebauten Dachboden. Die Giebeldreiecke mussten holzverschalt und zumindest die Balkonbrüstungen hölzern sein. Nur wenn auch der Boden aus Holz bestand, stellte sich das charakteristische Hörerlebnis beim Betreten ein.
Die neuen Balkone waren durchwegs zu schmal, um sie zu bewohnen. Die meisten der aufkommenden Bauordnungen ließen sie maximal 1,50 Meter in die Mindestabstandsfläche ragen. Bei knappen Grundflächen ergab sich daraus ein mehr formales als funktionales Element und die wenigsten Räume hatten eine Tür auf den Balkon.
Damals fiel auch niemandem ein, sich durch üppigen Blumenschmuck zusätzliche Arbeit zu schaffen. Viele Balkone blieben, wenn das Geld ausging, jahrelang ohne Brüstung oder Geländer. Sie waren Abstellräume für Regenunempfindliches.
Wohlstand und mehr Freizeit veränderten die Nutzung der Balkone. Ein Überfluss an Blumenschmuck wurde in manchen Landstrichen zum Statussymbol, ein Beweis für den grünen Daumen der Hausfrau, der neuerdings vollautomatisch bewässert wird. Auch durch die Ächtung des Rauchens in Innenräumen gewann der zu schmale Balkon wieder an Bedeutung. Bei Hotels galt er als unverzichtbarer Teil eines vollwertigen Zimmers, war er auch noch so klein und akustisch und optisch indiskret. Heute ist er die Rettung für Raucher:innen in Nichtraucherzimmern.
Der zulässige Balkon ist bei den Einfamilienhäusern weitgehend verschwunden. Ausreichend große, überdachte Terrassen haben sich als nützlicher und bewohnbarer erwiesen. Balkone sind dennoch als Sonnen- und Wetterschutz sinnvoll, ebenso als äußere Verbindung von Räumen. Per definitionem sind dies aber keine Balkone mehr. Vielleicht sind es begehbare Vordächer? Selbst die Blöcke der auf dem Land sich epidemisch ausbreitenden „Blockitis“, welche die Nachteile von Stadt und Land verbindet, weisen Eckloggien auf.
Nur in der Stadt gibt es noch eine spezielle definitionsgemäße Balkonform. Sie war der Star eines Lotto-TV-Spots: Die Familie sitzt eng gedrängt auf dem engen kleinen Balkon vor der Fassade über einer lauten Straße; etliche Nachbar:innen ebenfalls. Man grüßt verlegen und schaut sich gegenseitig in die Kaffeetassen. Dann kommen der Lottogewinn und das Einfamilienhaus. Seither nenne ich diese Minibalkone, die hauptsächlich dazu dienen, monströse Fassaden formalistisch zu behübschen, Lottobalkone.
In der verschärften Form sind die Geländer transparent und werden von den Bewohner:innen mit Strohmatten, Textilien oder NATO-Tarnnetzen verkleidet, um sie zumindest als Abstellraum brauchbar zu machen. Die Architekt:innen sind entsetzt und verwundert.
Je mehr ich über Balkone nachdenke, desto mehr kommen sie mir abhanden.