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Häuser mit Flügeln
Eine kleine Balkon-Phänomenologie

erschienen in
Zuschnitt 86 Balkone im Holzbau, September 2022

Es gibt in der Philosophie und darüber hinaus in letzter Zeit ein verstärktes Interesse für die Metaphorologie, die Hans Blumenberg gegen die begrifflich ausgedeutete Welt in Stellung gebracht hat. So begreift die metaphorologische Spielform der Anthro­pologie den rationalen Menschen nicht nur als Produkt seines Aufstehens auf zwei Beine, wodurch zwei Hände frei wurden (für Werkzeuge und Waffen). Sie sieht auch den so ermöglichten Blick in die Ferne als Grund für seinen „Weitblick“ und diesen wiederum als Grundlage für sein kalkulierendes, planendes Wesen. Zu Beginn also stand der Vormensch in der Steppe; seine Anlagen wuchsen mit seiner Statur. Das Aufrichten wird zum Gründungsmythos, zur Metapher all dessen, was kommt.

Was kommt, sind Mauern mit Türmen, aus denen man späht, ­Kioske als bereits offenere Form des Übergangs von Verteidigung zu Vergnügen, Gartenpavillons auf Gartenmauern, Loggien auf Florentiner Dächern, um das 16. Jahrhundert Fassadendekorationen der Palazzi, die man schon um das 1. Jahrhundert nach Christi kennt, damals aber noch als überdachte, vergitterte, hölzern-funktionelle Zwischenräume. Die seriellen Ausstülpungen in die Luft aus den Volumen städtischer Mietshäuser im 19. Jahrhundert und der Moderne waren beides: verlängerte Wirtschaftsräume nach hinten hinaus – wie übrigens auch bei den bäuerlichen Blockbauten unterm „Schopf“ – und straßenseitige Schmuck­balkone. Es sind keine Alkoven oder Erker oder Gerämse, die sich bedeckter geben, zurückhaltender, und auch keine trotzigen ­Altane, die sich nach unten abstützen müssen, während allein aus der standfesten Kraft der Mauer Balkone ragen: Balkon, langobardisch „balko“, das bedeutet „Balken“. Das Konstruktionsprinzip bestimmt das Bauelement – es greift aus, trägt frei. So flapsig der allgemeine Sprachgebrauch, so klar wird nun: Ein Balkon kann dann natürlich auch keine Loggia sein und erst recht keine Terrasse. Was alle drei hingegen eint, ist, dass es Formen des Nicht-ganz-sich-Abscheidens vom Körper des Hauses sind. Beides ist stets da in dieser Moderation von drinnen nach draußen, von draußen nach drinnen: Schauen und Erschaut-Werden, Freisein durchs Ins-Freie-Treten und doch auch Geborgen-Bleiben; Angekommen-Sein und neuerliches, sinnbildliches In-die-Ferne-Schweifen, als wollte man noch zu Hause daran erinnert bleiben, dass das feste Haus immer auch einen Weg gemacht hat, nämlich jenen der Menschen, die sich künstliche Räume zu errichten begonnen hatten, an die sich reichhaltige Schattierungen des Sich-Verschließens und -Öffnens knüpfen. Gibt es eine solche Geschichte architektonischer Elemente als Träger und Mittler einer sinn(en)reichen Kulturgeschichte bereits? Wie würde man sie schreiben? Dann nämlich, wenn es keine Typologie, keine Form- oder Materiallehre, keine schnöde Ansammlung von erst- oder letztklassigen Beispielen wäre? Mir schwebt vor, es könnte eine Sammlung von Metaphern sein, die aus der Fülle unseres ganzen Menschseins, unseres Befindens eben, spräche; andeutungsreich, Ding und Welt anthropomorphisierend, umsichtig-offen zugleich für das fremde Gegenüber, auf dass jeder, ob gestaltend oder nutzend (und so doch auch gestaltend), angeregt würde, etwa auf einem Balkon sein zu wollen. Auf einem Balkon sein zu wollen? Ja, ist man dort, steht man dort, lehnt man dort – lehnt man sich hinunter oder hinaus, weil man horcht, schaut, spricht, oder lehnt man sich hinüber, in die Luft, um im Himmel ein bisschen zu schweben?

Otto Friedrich Bollnow begriff die Architektur als Existenzform und das Haus als „Mitte der Welt“, da der Mensch einen Ort brauche, um Halt in der „Welt als Ferne“ zu finden, ein Haus, das erst durchs Wohnen seine Bestimmung finde. Mit seiner phänomenologischen Betrachtungsweise macht er noch deutlicher, dass die alleinige Rückführung einer erst zu verfassenden Bau-Elemente-Lehre auf das Sehen nicht hinlangt. In einer originären Baukunst müsste es um den „erlebten Raum“ gehen und das Hinaustreten ins Freie auf den Balkon in der Gänze des Erfahrenen enthalten sein. Dazu gehören alle vom konkreten Bauding mitausgelösten Zustände des Empfindens: etwa, wenn man, häuslich-nachlässig gekleidet, sich das erste Mal im Jahr hinauswagt, die Räume lüftet, sich lüftet, der noch frische, aber schon vom nahenden Frühling erwärmte Luftzug über die Haut streicht, auf der sich jetzt die feinen Haare ­unwillkürlich aufrichten, sträuben, halb angenehm nur, wird man davon doch beinahe zurückgedrängt, hinein, erlebt am Körper mit seiner unzulänglichen Bekleidung das Prinzip des Schützens als Zudecken mit Stoff. Es ist ganz so, wie man heute (unzulänglich) von der umschließenden Mauer als thermischer Hülle spricht. Was da aber geschieht, beim Schritt nach draußen hoch oben, das können Bildmetaphern besser fassen, dieses synästhetische Empfinden, das zudem ein Erinnern und Vorausdenken ist, das uns erfüllt als denkende und fühlende Wesen – gebunden an das „Bauglied“ eines Hauses, das aufgelöst werden könnte in den ­Zusammenhang vieler Teile: aufschlagende Türen, die Schwelle, die übertreten wird, Bodenwechsel, Balustrade und dann endlich das umspülende Freie, das sich als Gefühl der Kühle (oder Wärme) als Differenz­erfahrung zum Inneren, als anderes Licht, als Riechen und Hören, dann aber eben auch als Blickweitung ohne umgrenzende Mauern phänomenisch entbirgt. Ich denke an Botticellis „Primavera“, verstehe, obschon im Hochsommer in einem Raum sitzend, nachvollziehend den Windhauch in den Kleidern, durch das Bild des Bildes im Inneren vor mir. Womöglich wurde sein ­Maler von solchen der Luft ausgesetzten Erfahrungen inspiriert?

Aber auch an das soziale Zusammenkommen bin ich erinnert, das beim Balkon natürlich mit einer gewissen Segregation zu tun hat. Das Haus wird von hier draußen zum Körper unter Körpern – man tritt in Erscheinung mit und an seinem Haus, als Bewohner oder Eigentümerin in Gemeinschaft. Man trägt Name und Bedeutung. Wohnhäuser mit vielen Balkonen, die ja auch stilbildend sein können (man denke an die berühmten Fotografien des Prellerhauses und die auf Geländern herumkletternden jungen Bauhäusler:innen), sind Orte von Öffentlichkeitscharakter, wenn sie die reale wie symbolisch-würdevolle Teilhabe an Festakten erlauben, die impressionistische Maler gerne festgehalten haben. Balkone selbst sind ja gewissermaßen Festakte, wenn sie Fassaden gliedern, schmücken, sich zu Präsentationsformen hervortun an Schlössern und Amtsgebäuden. Sie sind Teil repräsentativer Gesten, stützen Verkündungen, Begrüßungen, politische Gebärden. Das private Hinaustreten findet sein Pendant im zeremoniellen Festakt, gerichtet an die ungebundene Masse dort unten: Balkone trennen und verbinden Menschen, erheben die einen, senken die anderen. Sie verkörpern eine bauliche Mischform. Wovon? Von Familie und Gesellschaft, von Privatheit und Öffentlichkeit, von Innerlichkeit und Gebärde – letztlich aber von drinnen und draußen. Sie sind mit Christopher Alexander „Patterns“, wenn er ähnliche Anlagerungen ans Haus als konkrete Ausbildungen sozialer Formen zur Sprache der Architektur bündelt. Seine Sammlung solcher „Muster“ weist sie als spezifische Orte der Nähe der menschlichen Sphäre zur Eigendynamik der Natur aus; ummauerte Gärten sind die weitläufigsten dieser Zwischenorte, Pergolen und Spalierwege gehören dazu, schließlich auch Wintergärten, die Glas zwischen hier und dort schieben. All dies sind architektonische Figurationen des Changierens, darin eingeschriebene freudige wie tastende Assoziationen aus der Tiefe der kollektiven Kulturgeschichte, doch eigentümlich gegenwärtig im je eigenen Erleben. Dort gehört der Balkon hin, in die Mitte zwischen der gegründeten und der schwebenden Welt der Luft.

Denkt man ihn aber vom Haus aus – es handelt sich ja um eines seiner Bauglieder –, so ist die Schwelle der Kulminationspunkt einer Polarität: dieses Hinaus-treten-Dürfen und Doch-drinnen-Bleiben, dieses Mehr-als-nur-Hinausschauen und doch Entfernt-Bleiben vom Boden der Stadt oder der schönen Landschaft, die einen hi­nauszieht, aber nicht oder noch nicht vollends dazu bewegt, das Haus zu verlassen. An der Schwelle zum Freitritt konzentrieren sich die verschiedenen Formen der Lebendigkeit von drinnen und draußen. Hier mischen sich das künstliche und das natürliche Licht, die Zutaten der selbst temperierten Lebens­sphäre mit jenen des größeren, unübersichtlicheren Außenraums. Immer aber bleibt auch gewärtig, dass das Haus nur eine Abscheidung von der Außenwelt ist, seine konditionierte Form. Denn alles kommt eigentlich von dort, dem außen liegenden Jenseits, selbst der Stoff, aus dem ein Haus sich gründet und mithin seine Ebenen über der gewachsenen Ebene Null, von der man sich abheben darf und ein Wunder erlebt, kein statisches, sondern ein schwebendes. Auch hierzu fällt mir ein Bild ein, Menzels berühmtes „Balkonzimmer“. Weder sieht man darauf den titelgebenden Balkon noch vollständig das Zimmer. Man spürt die Atmosphäre von Andeutung, von Übergang, das Temporäre, Flüchtige im unkontrollierten, vielleicht aber willkommenen Luftstoß. Es ist ein metaphorischer Ort der Verheißungen, der davon zehrt, nicht hier und nicht dort zu sein: eine Zwischenwelt, ein Zustand, den es „real“ gar nicht gibt, der ein räumliches Ahnen ist. Wie der Nachklang – wie das, was bleibt, wenn Musik verklungen ist. Doch hat Architektur im Gegensatz dazu die Tugend, aus solchen Momenten Taten zu begründen, wenn der Wohnende wohnt.

Eine solche Genealogie ist allerdings keine Einbahnstraße: „Ja, die Frühlinge brauchten dich wohl“, heißt es bei Rilke in den „Duineser Elegien“ – es geht um Wechselseitigkeit. Nicht erst das Äußere wird erlebbar, wo seine Dynamik ans feste Haus sich bindet, wenn dieses sich hinauslehnt. Der Lockruf kommt von der anderen Seite, das Haus wird förmlich hinausgezogen. Kein Balkon ist ohne Frühling, Sommer, Herbst. Er wäre dann also jene Zutat, die uns im Freien schweben lässt: Begründet sich das Haus durch sein Umschließen in Festigkeit, wurde es irgendwann wagemutig und sagte: Ich leiste mir, dich hinauszubegleiten, ohne dich allein zu lassen mit der Durchsichtigkeit der Luft.


verfasst von

Albert Kirchengast

Architekturtheoretiker, lehrt an diversen Hochschulen und ist Autor von Fachbeiträgen und Büchern. 2022 erschienen die Anthologien „Landscape Analogue. About Material Culture and Idealism “ sowie „Brutalismus in Österreich 1960 – 1980. Eine Architekturtopografie der Spätmoderne in neun Perspektiven“.

Erschienen in

Zuschnitt 86
Balkone im Holzbau

Der Balkon als Bauteil ist in der Architektur heute ebenso selbstverständlich wie komplex. In diesem Zuschnitt zeigen wir anhand gelungener Beispiele die Vielfalt an gestalterischen Aspekten und beleuchten die konstruktiven Herausforderungen von Balkonen im Holzbau.

8,00 €

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Zuschnitt 86 - Balkone im Holzbau

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